Eine gute Wahl

Haben Sie schon die Post zur „Sozialwahl“ erhalten? Wissen Sie schon, ob und wen Sie wählen werden? Nein? Keine Sorge: Das ist vollkommen egal. Dennoch ist es gut, dass es die Sozialwahl gibt

VON ULRIKE HERRMANN

Es ist verwirrend: Ständig treffen neue Briefe ein, auf denen dick das Wort „Sozialwahl“ prangt. Erst kam ein Schreiben, in dem die Sozialwahl nur angekündigt wurde. Inklusive Postkarte, mit der eine Broschüre angefordert werden konnte. Jetzt, einige Wochen später, folgen die eigentlichen Wahlunterlagen. Aber diese rücksichtsvolle Portionierung der Information dürfte sich den meisten Bürgern nicht erschließen. Ratlos fragen sie sich, was bloß die Sozialwahl sein könnte, und tragen die Umschläge zum Müll. Zurück bleibt ein leicht schlechtes Gewissen. Die „größte deutsche Briefwahl“ (offizieller Jargon) ist zugleich Deutschlands größte Wegwerfsendung.

Da dürfte auch der „lachende rote Wahlumschlag“ nicht helfen, der als „Held der Kampagne“ mit „comicartigen Gesichtern“ durch einen TV-Spot turnt. Das Skript erläutert eine der Szenen: „Eine Frau mit großen runden Augen hüpft ins Bild. Sprache: Frauen wählen.“ Aber was? Da bleibt der Spot dürftig: „für Rente und Gesundheit“. Es erstaunt nicht wirklich, dass sich bei der letzten Sozialwahl nur 38 Prozent beteiligten. Das war 1999, denn Sozialwahlen finden alle sechs Jahre statt.

Dabei ist es eigentlich logisch: Weil Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Rente und die Krankenkassen finanzieren, sollen sie auch die Aufsichtsgremien dort bestimmen. Also werden nun 30 Millionen Rentenversicherte angeschrieben, damit sie bis zum 1. Juni die Vertreterversammlung und den Vorstand bei der Bundesanstalt für Angestellte (BfA) wählen. Hinzu kommen 15 Millionen Krankenkassenmitglieder, die über die Verwaltungsräte bei der Barmer, der DAK, der Techniker-Krankenkasse und der KKH entscheiden sollen.

Doch trotz dieser Multimillionen von Briefempfängern erhalten viele Versicherten keine Post: Rund 280 gesetzliche Krankenkassen gibt es in Deutschland, nur bei den wenigsten wird gewählt. Ansonsten greift ein bizarres Instrument namens „Friedenswahl“. Es ist eine Wahl ohne Wahl. Denn bei den meisten Krankenkassen wird nicht gnadenlos demokratisch gekämpft: Entweder gibt es sowieso mehr Sitze als Kandidaten – oder aber die diversen Gewerkschaften und Interessengruppen einigten sich schon vorher, wie sie ihre Leute auf die Mandate verteilen. Prompt gilt der Verwaltungsrat als gewählt, ohne dass die Versicherten je abgestimmt hätten.

Diese friedliche Kooperation fällt meist nicht schwer. „Die Listen wollen sowieso das Gleiche“, hat ein BfA-Insider festgestellt. „Sie verlangen hohe Renten und niedrige Beiträge.“ Auch bei den Krankenkassen sind programmatische Unterschiede für den Laien kaum zu erkennen.

Der programmatische Leerlauf kann nicht verwundern, ist doch der Einfluss der Selbstverwaltung begrenzt. Bei der BfA legt sowieso der Gesetzgeber die Renten- und die Beitragshöhe fest. Bei den Krankenkassen dürfen die Verwaltungsräte immerhin Bonus-Programme oder Hausarztmodelle kreieren.

Außerdem, heikel: Der Verwaltungsrat bestimmt die Bezüge des hauptamtlichen Vorstands. Erst im März stellte sich heraus, dass einige Kassenmanager sehr großzügig verdienen. Denn seit dem letzten Jahr ist gesetzlich vorgeschrieben, dass ihre Bezüge zu veröffentlichen sind. Nun war also nachzulesen, dass mancher Kassenchef Gehaltssteigerungen von bis zu 24 Prozent verbuchen konnte – während die Bruttolöhne ihrer Versicherten oft stagnierten. So brachte es der Chef der IKK Schleswig-Holstein auf 272.000 Euro jährlich. Sein ehrenamtlicher Verwaltungsrat hatte offensichtlich nichts dagegen.

Stattdessen intervenierte das Bundesversicherungsamt: Bei zehn gesetzlichen Kassen legte es Widerspruch gegen die Vorstandsgehälter ein. SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt wurde drastisch: „Man muss darüber reden, ob eigentlich die Selbstverwaltung so noch funktioniert.“

Welche Selbstverwaltung? Eingeklemmt zwischen Gesetzgeber, Regierung, Bundesversicherungsamt und Lobbygruppen sind die Verwaltungsräte fast überflüssig. Im besten Fall sind sie selbst eine weitere Lobbytruppe, die die Meinungen von Unternehmern und Gewerkschaften nochmals verstärkt. Trotzdem muss es die Verwaltungsräte geben, so verlangt es die Logik unseres Sozialsystems, das Arbeitgeber und Arbeitnehmer finanzieren. Denn wer sollte sonst die hauptamtlichen Kassenmanager ernennen?

Freiwillig fast einflusslos zu sein, das ist eine Zumutung. Man muss daher jedem dankbar sein, der sich für das Ehrenamt Verwaltungsrat meldet. Und damit kein Neid aufkommt: Bei der BfA gibt’s pro Sitzung 52 Euro plus 24 Euro „Erfrischungsgeld“.