Das lange Leben der untoten Klänge

SPUKHAFTES Das Musikfestival CTM widmete sich in seiner zwölften Ausgabe Gespenstern aller Art

Musik hat heute mehr denn je mit dem Durcharbeiten ihrer eigenen Geschichte zu tun. Welch großer Beliebtheit sich das Hörbarmachen von Resten, Unerledigtem oder Vergessenem erfreut, ließ sich einmal mehr auf dem Berliner Festival CTM, früher Club Transmediale, eine Woche lang verfolgen.

Auf dessen Programm standen unter anderem Vertreter der Hauntology oder des Hypnagogic Pop, Genres, in denen Echos der Euphorie vergangener Dekaden als zitatenreiche Beschwörung zelebriert werden. Die Strategien sind vielfältig, oft werden scheinbar wahllos Klangelemente seziert und neu zusammengesetzt. Um die Kreativität der Tonschaffenden muss man sich dennoch keine Sorgen machen.

Im Haus der Kulturen der Welt etwa führte der US-Amerikaner Daniel Lopatin alias Oneohtrix Point Never seine Methode vor, aus Werbejingles und anderem Audiomüll stotternde Loop-Collagen zu basteln, die aber keinerlei nostalgischen Bezug zu ihrem Material erkennen lassen. Das ausverkaufte Konzert wurde in bester Retro-Manier visuell angereichert: Lopatin spielte vor einer riesenhaften Leinwand, auf der mutierende Bilder in wilden Farben den Hintergrund gaben. Für die garantiert analogen Bilder war die in den Sechzigern gegründete Joshua Light Show aus San Francisco zuständig. Mit Hilfe eines monumentalen Overhead-Projektors wurden in Wasser zerfließende Farben und andere Effekte aus guten alten LSD-Tagen gezeigt. Die Lichtkünstler verhalfen einst Frank Zappa und Jimi Hendrix zur psychedelischen Hintergrundgestaltung.

Widerhall der Orgel

Doch die Musiker des Festivals mussten nicht zwangsläufig einen Vergangenheits- oder Jenseitsfixierung zu Gehör bringen, um zu überzeugen. So konnte ein alter CTM-Bekannter wie der Brite Mark Fell mit hektisch zerstückelten Beats und Presets, das heißt den industriell voreingestellten Standardklängen von Synthesizern oder Keyboards, die er in einen heftigen Strudel aus Beschleunigung und Verlangsamung spülte, sich als eines der Festivalhighlights empfehlen.

Ebenfalls ohne erkennbaren Spukbezug spielte der Kanadier Tim Hecker in der Passionskirche ein „Orgelkonzert“. Die Klänge, mit denen er das Kirchenschiff, unterstützt von Mikrofonen und zwei mächtigen Bassverstärkern, als Resonanzraum nahezu lückenlos auskleidete, entstanden durch ein Wechselspiel von Orgeltönen, Feedback und Elektronik. Sie ließen das Instrument nur als Widerhall durchscheinen. Hier wurde der Raum selbst zum Instrument.

Hustenreiz und Kasteiung

Ganz direkt konnte man sich mit einer lebenden Vertreterin der musikalischen Vergangenheit beschäftigen: Das Eröffnungskonzert des CTM war der französischen Synthesizerpionierin Eliane Radigue gewidmet. Nach jahrzehntelangen Experimenten mit minimalistischen elektronischen Meditationen hat sich die 80 Jahre alte Radigue nun den akustischen Instrumenten verschrieben. So durfte man am ersten Abend einem mehr als abendfüllenden Stück für Cello und Bassetthörner beiwohnen. Die an der Schwelle zur Stille operierende Musik forderte dem nicht ganz vor Hustenreiz gefeiten Publikum über zweieinhalb Stunden ein Höchstmaß an Ruhe ab, das an Selbstkasteiung grenzte. Von den eher spröden Obertonvariationen der Interpreten wurde diese Mühe nur begrenzt belohnt.

Unterdessen konnte man sich fragen, ob die bürgerliche Konzerttradition des andächtigen Lauschens im Sessel von Musik wie dieser nicht ad absurdum geführt wird. So mancher ergriff denn auch trotz ausdrücklicher Ermahnung der Veranstalter vorzeitig die Flucht.

TIM CASPAR BOEHME