: „Manche haben ein Glücksgefühl nur einmal im Jahr“
Der Psychologe Dirk Blothner spricht über unser Verlangen nach dem guten Ende im Alltag und warum „Notting Hill“ ein so schöner Film ist
Herr Blothner, sind Menschen darauf ausgerichtet, möglichst viel zu einem guten Ende zu bringen?
Dirk Blothner: Ja, unsere Seele ist so angelegt, dass wir auf Abschlüsse drängen. Wir merken, dass wir immer im Übergang sind und deshalb haben wir es gerne, wenn etwas zum Abschluss kommt und möglichst rund ausgeht.
Woher kommt dieses Verlangen?
Unsere Seele ist darauf aus, Gestalten zu bilden. Eine Gestalt ist ein gelebter Zusammenhang, zum Beispiel eine Tasse Kaffee trinken. Diese Tat ist zu Ende, wenn der Kaffee ausgetrunken ist und was Neues beginnt. Der ganze Tagesablauf läuft in solchen Gestalten ab. Und zu einer Gestaltbildung gehört auch immer eine Tendenz zur guten Gestalt.
Warum?
Die Suche nach dem Glück hat ihren Ursprung darin, dass wir unser Leben voller Schwierigkeiten und Leiden erleben. Wir wünschen uns, dass wir dieses schwere Leben in den Griff bekommen und denken: Ja, wir können es doch steuern. Glück ist eben, das Gefühl zu haben, dass das Leben so verläuft, wie wir es uns vorstellen.
Und wenn es nicht läuft wie geplant?
Beides gehört dazu: Auf der einen Seite sehr viele Schwierigkeiten und auf der anderen Seite die ständige Suche nach dem Glück und Zuständen, in denen alles gelöst scheint. Das ist gut so: Solange wir Spannung spüren, fühlen wir uns lebendig.
Haben Sie heute schon ein Happy End erlebt?
Ein richtiges Glücksgefühl habe ich selten, eigentlich schon seit vielen Jahren nicht mehr. Und was das Abschließen angeht: Wenn ich dieses Interview hinter mir habe, werde ich das hoffentlich gut abgeschlossen haben.
Ein Happy End bedeutet nicht immer, ein Glücksgefühl zu erleben?
Ein Glücksgefühl ist etwas Seltenes. Das haben wir alle paar Wochen, wenn wir Glück haben. Manche haben es gar nicht, manche einmal im Jahr.
Wie beeinflussen die Medien unsere Vorstellung vom Glück? Zum Beispiel Kinofilme mit einem glücklichen Ende?
Man möchte natürlich das Happy End aus dem Film auf den Alltag übertragen und hätte es gern, dass die eigenen Liebes- und Lebensgeschichten so ähnlich ausgehen. Allerdings sind Filme mit gutem Ausgang in der absoluten Minderzahl. Dazu zählen hauptsächlich die romantischen Komödien, aber die gut zu machen, ist schwer.
Gerade haben Sie doch erklärt, dass die Menschen das gute, glückliche Ende schätzen. Müssten da nicht traurige Filme grundsätzlich an der Kinokasse ein Reinfall sein?
Nein. Wir schätzen im Kino auch die Erschütterung. Die meisten Dramen und Thriller oder auch manche Actionfilme haben noch eine zweite Ebene, in der sie uns eine Lektion des Lebens erfahren lassen. Wir gehen gerne tief berührt aus einem Film heraus. Wir wollen die Schwierigkeiten durchleben und am Ende dafür belohnt werden, indem wir etwas gelernt haben. Dramen entsprechen eher unseren Erfahrungen. Sie geben uns Trost.
Kennen Sie das Gedicht „Danach“ von Kurt Tucholsky, in dem es darum geht, dass Happy Ends konstruiert sind? Es geht darum, dass Filme einfach an der Stelle aufhören, an der alle glücklich sind, aber die Geschichte geht ja eigentlich noch weiter.
Das ist genau das Problem. Wir alle wissen, wenn zwei Liebende zusammenkommen, fangen die Probleme eigentlich erst an. Die meisten romantischen Komödien erzählen die Phase des Kennenlernens bis hin zum Zusammenkommen. Und dann wird abgeblendet, da hat Tucholsky Recht. Wir erfahren nicht mehr wie es weiter geht.
Haben Sie eine Lieblingskomödie?
„Notting Hill“ ist eine ganz wunderbare Komödie. Das Happy End funktioniert umso mehr, je stärker es vorher in der Geschichte verhindert wird.
Was ist bei „Notting Hill“ am Happy End so besonders?
Julia Roberts verlässt Hugh Grant sechs Mal, weil sie sich nicht traut, sich auf einen so einfachen Mann einzulassen. Aber ganz am Ende, als er sie auf einer Pressekonferenz fragt, ob sie für immer in London bleiben will, da sagt sie ja. Alle hören zu und alle applaudieren zu diesem „Ja“. Das Ende ist eine große Befreiung, weil der Film durch die vielen Trennungen schwer auszuhalten war. Ein großes Happy End. INTERVIEW: ANNA BORDEL
Dirk Blothner, 61, ist Professor für Psychologie an der Universität zu Köln und niedergelassener Psychoanalytiker
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