BERNHARD PÖTTER RETTUNG DER WELT
: Der Kabeljau-Kapitalismus

Das Meer wird leer. Für meine Kinder ist das ärgerlich, weil die Fischstäbchen teurer werden. Für andere Menschen ist es lebensbedrohlich. Schon deshalb gehört der Kabeljau auf die Europafahne

Vor ein paar Wochen brach in mir der andere Bernhard durch – Bernhard Grzimek, der Zoologe. Ich war mit den Kindern im Supermarkt, blickte auf meinen Einkaufszettel und musste plötzlich an die Rote Liste denken. Auf meiner Liste stand: Forelle und Klopapier. Auf der Roten Liste stehen: Pflanzen und Tiere, die vom Aussterben bedroht sind. Will man sie sehen, muss man nicht mal in den Zoo gehen. Ein Gang zur Fischtheke reicht. „Guck mal“, sagte ich zu meiner Tochter, „den Fisch da, den gibt es bald nicht mehr.“ Es war Kabeljau, das Kilo zu 19,90 Euro.

Der Kabeljau ist am Ende. Die Bestände in der Nordsee sind in den letzten dreißig Jahren von 250.000 auf 30.000 Tonnen geschrumpft. Mehr als 80 Prozent aller EU-Bestände gelten als überfischt. Und wenn das schon Brüssel feststellt, das die Fischereiflotten ja immer mit Steuergeldern verwöhnt hat, muss da was dran sein. Das Meer wird leer. Für meine Kinder ist das ärgerlich, weil die Fischstäbchen teurer werden. Für eine Milliarde Menschen ist das lebensbedrohlich, weil sie ihre Proteine vorwiegend aus Fisch beziehen. Deshalb will die EU bis Ende Juli ihre Quoten flexibler festlegen können.

Die EU sollte ihre Fahne ändern und einen Kabeljau in den Sternenkranz aufnehmen. Denn ohne den befände sich Europa noch im Mittelalter. Es war die Kabeljaufischerei vor der Ostküste Kanadas, die bei uns im 17. Jahrhundert den Kapitalismus ermöglichte. Bis dahin hatte es in Europa an proteinreicher Nahrung gemangelt. Plötzlich, mit den reichhaltigen Kabeljaubeständen, konnten auch Bauern, Arbeiter und Angestellte mit Proteinen versorgt werden.

Carl Pope, der Präsident des US-Umweltverbands Sierra, hat am Beispiel des Kabeljaus nachgewiesen, dass das bisher immer so gelaufen ist: Wirtschaftlicher Aufstieg war mit der Entdeckung und Ausbeutung biologischer Ressourcen verbunden. Beispiele gefällig? Die britische Flotte wurde aus den Wäldern Skandinaviens und Indiens gebaut. Die industrielle Revolution ernährte sich von den neu erschlossenen Getreidefeldern im Mittleren Westen der USA, der Ausbeutung Afrikas und der Sklavenwirtschaft in der Karibik. Der Aufstieg Japans stützte sich vor allem auf Ressourcen aus Indonesien, Malaysia und China.

So geht das aber nicht mehr. Und deshalb brauchen wir den Fisch in der Fahne. Als ein Zeichen dafür, dass der Kabeljau-Kapitalismus endgültig vorbei ist und dass wir unser leckeres Wappentier und die anderen Ressourcen pflegen müssen, wenn die fetten Jahre nicht vorbei sein sollen. Die EU-Fahne muss ohnehin überarbeitet werden – niemand versteht, warum 27 Mitgliedsländer durch nur 12 Sterne repräsentiert werden.

Den Kabeljau zu retten sollte aber nicht ein Anliegen der Direktion für Landwirtschaft oder Umwelt sein. Nein, das ist Chefsache und gehört ins Wirtschafts- und Finanzressort, wo man ja mit Milliarden jongliert, um ebenjenen Kapitalismus zu retten, den der Kabeljau erst ermöglicht hat. Denn seltsam: Die Bestände des Kabeljaus brechen genau jetzt zusammen, wo auch unsere Art des globalen Raubfischkapitalismus samt seiner Finanzhaie gurgelnd abgesoffen ist. Das kann kein Zufall sein.

■ Der Autor ist Hausmann und Journalist Foto: Rolf Zöllner