Ist Daniel Kehlmanns Kritik am „Regietheater“ berechtigt?
:

Pro
JOACHIM LOTTMANN ist Schriftsteller

Es ist doch einfach nur ein kleiner Irrtum. Das Wort Theater wird falsch eingesetzt.

Das Regietheater ist doch wunderbar. Selbst Kehlmann schaut sich die jeweils üppigsten Blüten des aktuellen Event-Schmarrns gerne an, und ich auch, jeder tut es. Mit Theater hat es natürlich nichts zu tun. Deshalb sollte auch nicht Theater draufstehen, nicht Goethe, Wedekind oder Strindberg. Nur würde dann niemand Geld dafür bezahlen: nicht der Staat, und nicht die Bürger. Eine milliardenschwere Industrie verschwände so unvermittelt wie vor 20 Jahren die DDR. Und danach würde niemand zugeben, mitgemacht zu haben.

Und es wird so kommen. Denn die Argumente des Regietheaters stimmen einfach nicht. Argument eins: Die beliebigen Einfälle der Regisseure seien ein Ausdruck des Stücks. Oder des Regisseurs. Oder überhaupt Ausdruck für irgendetwas. Sind sie aber nicht. Bitte gehen Sie bei nächster Gelegenheit in ein Theater next door und sagen Sie mir dann, ob der bunte Zirkus einen inneren Zusammenhang gehabt hat. Nein, es sind beziehungslose Effekte, und sie stehen nur für sich selbst. Es ist dummes Zeitfüllen. Die Leute über den Abend bringen. Indem man sie in jeder Sekunde irgendwie beeindruckt und ablenkt.

Argument zwei: Es kommen mehr Menschen denn je in die Theater. Nein, sie kommen in den Zuschauerraum, aber nicht, um ein Theaterstück zu sehen. Wer das sehen will, bleibt zu Hause. Deswegen hat Kehlmann recht, wenn er sagt, das Theaterpublikum würde heute Bücher lesen und „Curb your Enthusiasm“ gucken, also heruntergeladene intelligente US-Serien. Die Bühnen haben das Theaterpublikum verloren und dafür ein zahlenmäßig größeres Zirkuspublikum gewonnen. Das finde ich in Ordnung. Wir sind ein freies Land.

Aber diese notgeilen Spießer, die sich zu Hause langweilen und sich nicht in die Kinos trauen, weil sich dort die Jugend tummelt, sollen keinen Cent Staatszuschuss für ihr Plaisir bekommen. Es sei denn, auch der Bordellbesuch wird ab sofort alimentiert.

Contra
KATRIN BETTINA MÜLLER ist Theaterredakteurin der taz

Wer regelmäßig Sonntagabend „Tatort“ schaut, hat bald mehr So-lala- und Kennen-wir-schon-Krimis als Storys, die ihn vom Hocker hauen, gesehen. Wen es oft auf die Tribünen seines Fußballvereins zieht, der stöhnt regelmäßig über mehr schlechte Spiele als gute. Den Fan betrübt das, er bleibt trotzdem dabei. Der Masochismus dessen, der viel ins Theater geht, ist womöglich etwas größer.

Dass es mehr So-lala- und Kennen-wir-schon-Inszenierungen denn glückliche Neuentwürfe einer Welt im deutschsprachigen Theater gibt, ist somit nur für denjenigen ein Argument gegen das Genre, wer in ihm sowieso nicht zu Hause ist. Daniel Kehlmann hat sich in seiner Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele als ein solcher geoutet. Für einen bekennenden Nichttheatergänger, der die Urteile ausländischer Besucher für seine Begründung heranziehen muss, hat er dem Theater mit seinem pauschalen Ideologieverdacht gegen das Regietheater dennoch einen großen Gefallen getan. Seine Rede war eine hervorragende Beschäftigungsmaßnahme für die Theaterkritik in der Sommerpause. Sie hat Kehlmann die Rolle des bösen Buben abgenommen. Das ist dem Autor, der seit dem Erfolg seines Romans „Die Vermessung der Welt“ wohl von zu viel Streicheleinheiten ermüdet ist, zu gönnen.

Der Vorwurf Kehlmanns, das Regietheater sei eine letzte Schrumpfform linker Ideologie, entbehrt nicht der unfreiwilligen Ironie. Das Theater, mal eben so pauschal wie Kehlmann gesprochen, wäre ja gerne mehr links, weiß aber auch nicht mehr ganz genau, wo das liegt. Der Mangel an Utopien von größerer sozialer Gerechtigkeit ist eines seiner Themen, und das Leiden an diesem Defizit wird offen zur Schau gestellt. Die Suche nach ästhetischen Sprachen, die die Grenzen zwischen separierten Milieus durchbrechen können, ist dabei ein Mittel. Es gehört eine gehörige Portion Ignoranz dazu, diese Suchbewegung mit einem Verbeißen in eine Ideologie, die schon immer weiß, wo es langgeht, zu verwechseln.