Am Fenster Nachbars Fisch

DOKUMENTARTHEATER In seinem Recherche-Stück am Deutschen Theater befragt Tobias Rausch die Menschen, die 1997 das Oderhochwasser miterlebt haben

Sommer 1997: In Tschechien und Polen schüttet es derart, dass die Oder über die Ufer tritt und das schlimmste Oderhochwasser seit Menschengedenken entsteht, „Jahrtausendflut“ nennt es Ministerpräsident Matthias Platzeck. 30.000 Soldaten setzt die Bundeswehr für ihren größten Katastropheneinsatz ein, 114 Menschen sterben, die Bevölkerung spendet 50 Millionen Euro für die Flutopfer.

Fast 15 Jahre danach bringt nun Tobias Rausch, Experte für Recherche-Stücke, mit „Oder Bruch“ die Geschichten dieser Menschen auf die Bühne. Hundert Interviews haben er und sein Team geführt mit Evakuierten, Helfern, Bürgermeistern, Ministerpräsidenten, Spendenkommissaren und Soldaten. Dokumentation der Zeitgeschichte also zum traurigen Jubiläum? Zum Glück mehr als das.

Am Anfang, so erzählen die Schauspieler des Deutschen Theaters und der koproduzierenden Neuen Bühne Senftenberg in den Rollen von Ministern und Kommandeuren, war der Unglaube: Was der Mensch nicht mit eigenen Augen sieht, das existiert nicht. Vor einem Plastikvorhang berichten sie, wie sie bei den ersten Warnungen von den Dorfältesten belächelt wurden. Bis das Wasser kam. Bei Rausch kommt es mit einem Glucksen, dann ein dumpfer Knall – die Plastikplane fällt, und dahinter verläuft ein Deich quer über die Bühne, überzogen mit einer beige-grünen Blümchentapete, wie man sie aus unsanierten DDR-Häusern kennt. Darüber türmt sich eine Monsterwelle – oder rollt sich nur ein Stück Tapete ab?

Angst und Verlust

Mit einfachen ästhetischen Mitteln arbeitet Rausch und mischt auf der Bühne sinnvoll die Metaphern: Droht der Deichbruch, stemmen die Schauspieler in weißer Helferuniform Löcher aus dem Holzkonstrukt – kommen die Häuser ins Spiel, kann durch einen Handgriff ein Fenster mit Gardine eingelassen werden, schon entsteht ein Wohnzimmer.

In 14 kleinen Szenen illustrieren die Schauspieler unterschiedlichste Blickwinkel. Da ist der Teenager, der im überschwemmten Haus nur um sein Visum für die USA bangt. Da ist der Rentner, glücklich, endlich eine nützliche Aufgabe als Deichläufer zu finden. Später wird es bewegender, wenn Barbara Heynen als alte Frau sich bei der Evakuierung durch das Militär an 1945 erinnert fühlt, als sie Hals über Kopf über die gefrorene Oder fliehen musste. 1997 wurden die Menschen im Oderbruch, einem Gebiet, das unterhalb des Flussspiegels liegt, teils mit Gewalt aus ihren Häusern geholt. „Das war keine Evakuierung, das war eine Vertreibung.“

Tobias Rausch lässt den Abend nicht in Pathos abgleiten: Auf eine nachdenkliche Szene folgt meist eine Art Schildbürgerstreich. So zumindest könnte man es nennen, wenn Marco Matthes, komödiantisch bestens aufgelegt, mit Berliner Schnauze das Organisationschaos beim THW zu erforschen versucht.

Manchmal droht die Aufführung in ihre Einzelteile zu zerfallen und sich im Anekdotischen zu verlieren.

Letztlich jedoch behält Rausch die großen Themen im Auge, die das Stück über eine Geschichtsstunde hinausheben: Es geht um Heimatverlust, Solidarität, Profitgier und Existenzangst. „Das Wasser hat ein älteres Gedächtnis als wir“, sagt Barbara Schnitzler, „als ob es sich erinnern würde, sucht es immer wieder sein altes Bett“. Und das steht, allen Begradigungsversuchen vergangener Jahrhunderte zum Trotz, dort, wo die Menschen des Oderbruchs wohnen und leben.

BARBARA BEHRENDT

■ Wieder am 12., 13. und 25. März