: Abfallprodukt der Liebe
METRO „Jaurès“ von Vincent Dieutre (Forum)
Jean Jaurès war ein französischer Reformsozialist, Abgeordneter der Nationalversammlung und Pazifist. Im Sommer 1914 wurde er von einem Nationalisten umgebracht. Eine Metrostation im Nordosten von Paris ist nach ihm benannt, die Bahn fährt hier auf einer Trasse über der Erde, ein Kanalbecken befindet sich in der Nähe.
Über mehrere Monate hinweg siedelten am Rand des Beckens Flüchtlinge aus Afghanistan, junge Männer, die sich unter Planen ein ephimeres Zuhause eingerichtet hatten. 2010 wurde ihr Camp geräumt, und die Männer wurden auf Heime verteilt.
„Jaurès“, ein Essay des Pariser Filmemachers Vincent Dieutre, erzählt also von einer flüchtigen Situation, von einem fragilen Zustand, der jederzeit in einen anderen umschlagen kann. Dabei hat die Perspektive des Films selbst etwas Improvisiertes. Dieutre geht nie zu den Männern hin, befragt sie nicht, sondern blickt aus den Fenstern einer Wohnung auf sie, zoomt an sie heran und von ihnen weg.
So flüchtig und improvisiert diese Bilder auch sind, so gelingt es ihnen doch, die Routinen der jungen Männer einzufangen. Besonders eindrücklich etwa sind die Szenen, in denen sie das mit scharfen Zacken und Kanten bewehrte Gatter überwinden, das das von ihnen besetzte Areal vom Rest des Kais abgrenzt.
Auch die Organisation des Raums erfasst der Film: Unten, am Ufer, die Flüchtlinge, in der Mitte die Straße mit den Geschäften, den Passanten, dem Verkehr, oben die Trasse der Hochbahn. In dem Viertel wohnten früher Arbeiter, heute ist es gentrifiziert, die Zeltstadt am Ufer wirkt wie ein Fremdkörper. Oder: wie ein Einbruch dessen, was man als Bewohner einer westeuropäischen Großstadt normalerweise nur in den Nachrichten sieht.
Zu Gast im Leben
Die Wohnung gehört nicht dem Regisseur, sondern seinem damaligen Geliebten Simon. Dieutre übernachtet zwar dort, einen Schlüssel aber hat er nicht, genauso wenig wie einen festen Platz in Simons Leben. Darüber denkt er nach, während er sich in einem Studio, gemeinsam mit einer Freundin, die durch das Fenster gemachten Aufnahmen anschaut.
In Dieutres Erinnerungen hat Simon etwas von einem Jean Jaurès der Gegenwart; er ist ein linker Aktivist, für den die politische Arbeit zugunsten der Schwachen im Mittelpunkt steht. Eine schwule Liebesgeschichte wirkt in diesem klassisch linken Umfeld exzentrisch, nicht vorgesehen, und Dieutres Film ist, wenn man so will, ein Abfallprodukt einer Liebe, die, während sie andauerte, keinen richtigen Ort fand und heute der Vergangenheit angehört.
Dass er selbst im Leben Simons nur zu Gast war, wird dabei auf subtile Weise mit der prekären Situation der Männer am Kai verschaltet, ohne dass das eine je mit dem anderen in eins gesetzt würde. Am Ende schickt sich „Jaurès“ in die Flüchtigkeit. Das mag weise sein, traurig ist es aber auch. CRISTINA NORD
■ 11. 2., 19.30 Uhr, CinemaxX 4; 13. 2., 16.30 Uhr, Delphi; 14. 2., 15 Uhr, Cubix 7; 18. 2.; 22.30 Uhr, Arsenal 1