Beruhigungspille für den Westen

In seinem jährlichen Bericht zur Lage der Nation gibt sich Russlands Präsident Wladimir Putin betont liberal. Über den Weg zur Demokratie entscheidet jedoch der Kreml

MOSKAU taz ■ Die Deputierten der Duma und des russischen Föderationsrates änderten Hals über Kopf ihren Terminplan. In letzter Minute hatte der Kreml Präsident Putins jährlichen Bericht zur Lage der Nation für Montag angekündigt. Am Mittwoch wird nämlich das Urteil im Prozess gegen den enteigneten Yukos-Milliardär Michail Chodorkowski erwartet, und am 9. Mai empfängt Moskau zum 60. Jahrestag des Kriegsendes Dutzende Staatschefs aus aller Welt. Im Vorfeld war ein klares Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaat fällig.

Neben einem starken Staat und einem verbesserten Gerichtssystem formulierte Putin als drittes Ziel der Kremlpolitik den Aufbau der Zivilgesellschaft nebst Förderung der Rolle des Individuums. Wer immer noch der Meinung sei, dass das russische Volk nicht fähig zur Demokratie sei und der Lenkung von oben bedürfe, den wolle der Präsident „an die Wirklichkeit heranführen“. Russland weiche nicht vom Pfad der Demokratie ab, entscheide jedoch selbst über „Tempo, Modalitäten und die Bedingungen des Weges in Richtung Demokratie“. Dies war eine Antwort auf Kritik aus dem Westen an der zunehmend autoritären Politik des Kreml.

Überdies stellte Putin eine parlamentarische Kontrollkommission in Aussicht, die die Arbeit der staatlichen Medien unter dem Gesichtspunkt der Ausgewogenheit überwachen und auch der Duma-Opposition Zugang zu ihnen verschaffen soll. Den Steuerbehörden schrieb er ins Stammbuch, sie hätten kein Recht, die Geschäftswelt mit immer neuen Forderungen zu terrorisieren. Die Abgeordneten bedankten sich mit anhaltendem Applaus.

Auch in den Vorjahren waren die Berichte zur Lage der Nation von liberalem Gedankengut erfüllt. Nur deckt sich das bislang nicht mit der innenpolitischen Wirklichkeit Russlands. Der Vize-Vorsitzende der nicht mehr in der Duma vertretenen demokratischen Partei Jabloko, Mitrochin, meinte dann auch: Die Rede war nur für das Ausland bestimmt.

KLAUS-HELGE DONATH