Dokumente der Verstörung sind nicht genug

GRUNDIMPULSE Schreiben und die Möglichkeiten, die Vergangenheit wieder hervor- zurufen – ein Gesprächsband mit W. G. Sebald

VON ALEXANDER DIEHL

Als W. G. Sebald 2001 bei einem Autounfall ums Leben kam, 57-jährig, da wurde das gern als viel zu früher Tod bezeichnet. Die bald zur Floskel erstarrte Formel führten auch Vertreter des deutschen Literaturbetriebs im Munde – eines Betriebs, der mit dem Autor und Literaturwissenschaftler Sebald auch seine Schwierigkeiten hatte.

Die zu Lebzeiten teils harsch ausgetragenen Debatten – um Alfred Anderschs vermeintliche Unaufrichtigkeit in seiner Widerstandsbiografie oder die angebliche Verdrängung des Bombenkriegs – klingen nur von Ferne an in dem Band, den gut zehn Jahre später der Fischer Verlag vorgelegt hat. 20 Gespräche aus 30 Jahren, darunter auch solche, in denen Sebald selbst der Gastgeber, der Interviewer war. Als Dozent für Neuere Deutsche Literatur empfing er in den 70er Jahren allerlei deutschsprachige Autoren im englischen Norwich zu einer Art Werkstattgespräch. Auch davon liegen nun erstmals welche transkribiert vor.

Abgesehen vielleicht vom ersten Text, in dem sich ein noch recht junger Sebald 1971 mit Germanistenkollegen wie Peter von Matt und Hellmuth Karasek über die Sozialkritik im Werk Joseph von Sternheims austauscht: Herausgeber Torsten Hoffmann hat hier keine Streitgespräche zusammengetragen, die es auch gegeben haben mag. Es ist größtenteils in freundlichem Ton gehaltener Austausch, da sprechen auch schon mal Bewunderer mit einem Bewunderten. Naturgemäß nicht ohne Redundanz. Immer wieder geht es da um die Verschränkung von Dokumentarischem und Fiktionalem, um Sebalds Methoden der Recherche und die in seine Texte eingehängten Fotos und Papiere. Immer wieder wird er befragt nach seinem großen Thema: dem Erinnern – und jenem von ihm als spezifisch, aber nicht exklusiv deutsch erkannten Nichterinnern, aller ausgestellten Beschäftigung mit dem Vergangenen, ja Begangenen zum Trotz.

„Wir wollen das, was abgeschoben, relegiert, abgestorben ist, noch mal leben lassen“, umreißt Sebald in einem Gespräch mit Andreas Isenschmid einen „der Grundimpulse allen Schreibens überhaupt“. 1990 war das, da hatte er sein literarisches Debüt „Schwindel. Gefühle“ in Enzensbergers Anderer Bibliothek gerade erst veröffentlicht. „Erzählen hat etwas damit zu tun, ganz grundsätzlich, dass man die Vergangenheit wieder heraufruft“, führt er aber auch zehn Jahre später noch aus. „Es kommt etwas zurück.“

Ausgehend noch vom Wissenschaftlichen, „weil ich ja als Schreibender nicht aus der Literatur her komme, sondern eher aus der Literaturkritik“, hatte er in „Schwindel“ Essayistisches zu Stendhal und Kafka mit sehr Persönlichem, selbst Erlebtem verwoben. Diese Verquickung unterstreicht er wiederholt: „Wo der Autor sich nicht durchsetzt in einem Buch“, sagt Sebald zu Isenschmid, „ist das Buch eigentlich letzten Endes, auch wenn es noch so objektiv ist, umsonst geschrieben.“ Der reale Sebald, der Autor Sebald und der namenlose Erzähler haben demnach zwar miteinander zu tun, sind aber nie identisch. So wie ja auch die in seiner „Prosamusik“ (Michael Rutschky) auftretenden Figuren, insbesondere die vier „Ausgewanderten“ im gleichnamigen Buch 1992 sowie der ihnen verwandte „Austerlitz“ (2001), nicht eins zu eins Lebenden oder Toten entsprechen.

Indem in den Gesprächen immer wieder daran gerührt wird, erlaubt der neue Band einen guten Blick darauf, wie der sprechende Sebald – nicht besser oder schlechter, aber anders als der schreibende – darum ringt, zwischen den Polen Dokumentation und Erfindung ein Anderes, gleichwohl Wahrhaftiges zu erreichen. So unterstreicht er bei allem Respekt einen gewichtigen Unterschied zu Walter Kempowski, der mit seinen „Echolot“-Sammlungen ja ein vordergründig benachbartes Feld beackert: „Das ist sehr gutes Material“, sagt er im Jahr 2000. „Aber es handelt sich nicht um Literatur in irgendeiner Form.“

Entsprechend urteilt er über die reichen Zeugnisse, die ihm nach der Veröffentlichung seines wohl umstrittensten Bandes „Luftkrieg und Literatur“ zugingen: „Ich habe Hunderte von Briefen aus Deutschland zu diesem Thema gekriegt“, sagt er 2000. Sie seien aber größtenteils „für die Literatur unbrauchbar, weil es sich im Grunde nur um Zeugnisse der Verstörung handelt, einer bis heute nachwirkenden Verstörung, die in ihren Äußerungsformen hysterisch ist“. Es gehe schon um Verdichtung, um Verarbeitung, sagt Sebald – um an anderer Stelle, unter Hinweis auf Spielbergs „Schindler“-Film, zu betonen, wie sehr er das „Melodramatische“ fürchte.

Wenn aber das Wieder-Holen, das Zur-Sprache-Bringen des Vergangenen sein großes Projekt war, dann mag das begründen, warum es – über rein philologisches Interesse oder Fantum hinaus – diese Sammlung von Gesprächen heute brauchen könnte. Sebald konnte noch halbwegs darauf setzen, dass das zu Erinnernde zugänglich sei, etwa durch „eine Form der Oral History“. „Fünfzig Jahre“, sagt er 2000, „sind ja gar nicht so viel.“ Zehn Jahre nach seinem Tod ist sein Versuch einer Erinnerungsarbeit, die um die Möglichkeiten des nicht bloß Dokumentarischen weiß, umso nötiger.

W. G. Sebald: „Auf ungeheuer dünnem Eis“. Gespräche 1971 bis 2001. Hg. von Torsten Hoffmann. Fischer, Frankfurt a. M. 2011, 288 Seiten 9,99 Euro