: Blut und Boden aus dem Meer gewinnen
TÄTERORTE Wie die Verführungsideologie der Nazis funktionierte, lässt sich an der Nordseeküste bis heute studieren
VON ROBERT HABECK
Zur Nordsee hat der Schleswig-Holsteiner ein gespaltenes Verhältnis. Seefahrt, Fischerei, Tourismus, Handel machen sie zur Wertschöpfungsquelle, Sturmfluten zur ständigen Bedrohung, sodass man dort seit alters her „Nordsee ist Mordsee“ reimt. Während des Faschismus wurde diese Ambivalenz aufgelöst und vereinseitigt. Die Nordsee war der Feind, den es zu besiegen galt. Ihr sollte „Lebensraum im Westen“ abgetrotzt werden, der Ansturm ihrer Wellen sollte zurückgeschlagen werden. Bis in sprachliche Nuancen hinein findet man in den Dokumenten der Zeit ab 1933 – und schon davor, Hitler besuchte Dithmarschen bereits 1929 – die Terminologie des totalen Krieges, die Hitler, Goebbels und Konsorten später auf den Weltkrieg übertrugen.
Aber die Naziideologie geht über das Wort hinaus. Mit dem Beginn ihrer Herrschaft einher ging das Programm einer großen Landgewinnung, ein ehrgeiziges Eindeichungsprojekt. „Neue Deiche in Hitlers Namen“, wie es im Untertitel des kürzlich erschienenen Bildbandes von Frank Trende („Neuland war das Zauberwort“, Boyens Buchverlag, 232 Seiten, 28 Euro) heißt, sollten – so wollte es die Propaganda – dem deutschen Volk neuen Siedlungsraum schaffen. Der Sinn und Zweck der neuen Köge war allerdings ein ganz anderer. In den Bauwerken, Symbolen, ja im Projekt der Landgewinnung manifestierte sich die Idee des Nationalsozialismus als völkisches Gesamtkunstwerk. Und die Auseinandersetzung damit führt zum Kern der Frage, wie der Faschismus seine Wirkungsmacht entfalten konnte, wie er auf alten Mythen und klassischen deutschen Traditionen aufbauen konnte und diese pervertierte.
Das ist keine trockene Historikerfrage. In den letzten Novemberwochen des vergangenen Jahres wurde bekannt, dass in der kleinen Gemeinde Tümlauer Koog auf der Halbinsel Eiderstedt seit Jahren die mit Runen und Hakenkreuz besetzte Glocke öffentlich aufgestellt war, die alte Koog-Glocke. Neben dieser war eine Tafel angebracht. Auf der „erklärenden“ Tafel neben der Glocke stand unter anderem: „Seit 1933 herrscht die NSDAP […] Der Gewinn eines Kooges bleibt eine große Leistung, er schafft Land und Ernährung.“ Der Tümlauer Koog hieß bis 1945 Hermann-Göring-Koog. Etwa dreißig Seemeilen weiter südlich lag der Adolf-Hitler-Koog, der heute Dieksanderkoog heißt. Er war das Auftakt- und Musterstück der Nazi-Zurschaustellung.
„In den neuen Kögen sollte nicht nur Getreide ausgesät werden, sondern zugleich auch der Keim dafür gelegt werden, dass die Idee des Nationalsozialismus wachsen würde“, schreibt Trende und zitiert den Gauleiter für Schleswig-Holstein, Hinrich Lohse, mit folgenden Worten: „In der Gewinnung und Besiedlung der dem Meer abgerungenen Neulandflächen wird der Nachwelt ein bleibendes Symbol nationalsozialistischer Taten übermittelt.“ Dieses Symbolhafte begann schon mit der Erstellung des Deiches 1933/34. Soweit es ging, wurde auf Maschinen verzichtet, wurden die Erdarbeiten mit Muskelkraft vollbracht.
Die Fotos in Trendes Buch gleichen einer Hommage an Leni Riefenstahl. Als Siedler für das neue Land durften sich nur Deutsche bewerben, die ausgefeimte Rassentests über sich ergehen ließen – eine völkische Elite. Die Siedlung selbst bildete raumplanerisch das Ideal der „Volksgemeinschaft“ aus Bauern, Handwerkern und Arbeitern nach; mit der sogenannten Neulandhalle, anstelle einer Kirche errichtet, wurde die Ideologie noch einmal in kultisch-komprimierter Form dargestellt. Bis in ihre Fresken und Bauplastiken versinnbildlicht sie die Blut-und-Boden-Ideologie. Der Neulandhalle stiftete der Reichsnährstand ebenfalls eine Glocke. Auch sie trug ein Hakenkreuz und die Umschrift „Blut und Boden sind die Grundlage des deutschen Staates“. Es ist die Schwesterglocke der Göring-Glocke – und sie ist in den 60er Jahren verschwunden. 1985 – zum fünfzigsten Bestehen des Dieksanderkoogs jedoch, wurde sie wieder hervorgeholt und noch einmal geläutet, „im Kreis der Eingeweihten“, wie Trende einen Bauern zitiert.
Wichtiger jedoch als der Geschichtenschauer der Glockenanekdote ist der Mythos, den die Glocke selbst symbolisiert. Die Glocke, als Bild symbolischer Macht und Kommunikation, als das, was die Menschen ruft und zu einer Gemeinschaft macht, in Not oder Gebet, ist schon schwer symbolbeladen. Hinzu kommt, dass die Glocke als „Frucht des Bodens“ in ihrer „Stofflichkeit“ selbst sich als Ideologieträger anbietet wie kaum etwas anderes.
In Schillers Langgedicht „Das Lied von der Glocke“ heißt es: „In die Erd ist’s aufgenommen / Glücklich ist die Form gefüllt“. Was Gestalt werden will, so das Diktum der Klassik, muss die Form schließlich sprengen oder hinter sich lassen. Und um Gestaltwerdung der Idee geht es in der Kunst schlechthin. Schiller bringt diese Kunstauffassung in einem Brief an Christian Gottfried Körner auf den Punkt: „Die Natur der Sprache (eben diese ist ihre Tendenz zum Allgemeinen) muss in der ihr gegebenen Form völlig untergehen, der Körper muss sich in der Idee, das Zeichen in dem Bezeichneten, die Wirklichkeit in der Erscheinung verlieren. Frey und siegend muss das Darzustellende aus dem Darstellenden hervorscheinen.“
Die Geringschätzung der Technik, die Idee, dass das Wesen einer Idee zu sich selbst kommen muss, dass sich dieses Zu-sich-selber-Kommen nur in der einem Volk eigenen Kunst darstellen kann, daraus speist sich die Verführungskraft des Nationalsozialismus. Das macht seinen Mythos aus, der sich hier, wie es der französische Philosoph Lacoue-Labarthe einmal nannte, als Nationalästhetizismus darstellt und ausstellt. Die Idee, eine Volksgemeinschaft als Politik-Kunst zu inszenieren, alles, was ihr Äußerlich ist, zu tilgen, alles, was einem irren Reinheitsgebot zuwider ist, auszumerzen, die Abgründigkeit dieser Idee ist eine, die im klassischen Kunst- und Volksverständnis angelegt ist.
Trende erwähnt in seinem Buch eine Gedenktafel im Städtchen Marne für Johann Wolfgang Goethe, weil dieser im Faust II der Landgewinnung ein literarisches Denkmal gesetzt hat. „Da herrschet Well’ auf Welle kraftbegeistet, / Zieht sich zurück, und es ist nichts geleistet, / Was zur Verzweiflung mich beängstigen könnte! / Zwecklose Kraft unbändiger Elemente! / Da wagt mein Geist, sich selbst zu überfliegen; / Hier möcht’ ich kämpfen, dies möcht’ ich besiegen.“ Aber die Landgewinnung dekonstruiert sich selbst. Faust steht am Ende einem totalitären Gemeinwesen vor, auf dem Höhepunkt seiner Macht, ein Führer – aber einer, der die Gegenwart, jenen Moment des „verweile doch, du bist so schön“ völlig vergessen hat. Er hört die Spatengeräusche, das Geklapper, und freut sich ihrer, weil er denkt, sie vollenden sein Werk und gewinnen Neuland durch Deichbau. In Wahrheit aber sind es die Spaten, die sein eigenes Grab graben.
Die Idee, aus dem Meer einen Boden zu machen, aus der Ambivalenz ein Gleiches, scheitert. Das Zu-sich-selber-Kommen einer totalitären Idee führt ins Grab. So wie parallel zum propagandistischen Spatengeklapper für den neuen Lebensraum im Westen in ganz Deutschland Gräber geschaufelt wurden, für alle, die nicht der Idee des Nationalästhetizismus entsprachen.
Die Neulandhalle war seit Jahrzehnten im Besitz der Kirche, die die Kosten des ungenutzten Gebäudes nun nicht mehr tragen kann. Und die Frage stellt sich drängend, was man mit einem Gebäude macht, in dem die Blut-und-Boden-Ideologie zu Stein geronnen ist. Denn die kleine Gemeinde auf dem neuen Land war stets mehr als nur ein neues Dorf.
Sie war ein Ort nationalsozialistischer Selbstdarstellung, ein ideologischer Hotspot – Besuchergruppen aus Japan und Italien wurden von Hamburg über Süderdithmarschen nach Berlin kutschiert, Radiosendungen und Filme produziert, die den neuen Adolf-Hitler-Koog reichsweit als Bild für das neue Deutschland inszenierten.
Schon 1929 schrieb Hitler anlässlich eines Besuchs in Dithmarschen: „Bauern sollen das sein und der Hof ein ‚Bauerngut‘, so sagt man, doch sieht das alles hier aus wie Edelsitze. Und die Besitzer selbst: Das ist in Wirklichkeit der Adel unseres Volkes.“ Frank Trende, selbst im Dieksanderkoog Kind gewesen, schreibt, dass Hitler damit zitiert, „was alle Dithmarscher seit Jahrhunderten gern über sich hörten: „Dithmarschen schölen Buern syn? Se mögen wol wesen Herren.“ Einmal mehr zeigt sich, wie eng sich der Nationalsozialismus anschmiegt an Volk und Mythen.
Täterorte wie der Obersalzberg oder das Reichsparteitagsgelände mögen imposanter sein als die Neulandhalle. Dass der Nationalsozialismus seine Vernichtungsorgien nur durch die Verführungsideologie bewerkstelligen konnte und wie diese im Detail funktionierte, wie viel es kulturgeschichtlich noch zu lernen gibt, das kann man an der Neulandhalle, an den Nazi-Glocken, an der Symbol- und Mythensprache wie unter einem Brennglas studieren. Es wäre zu wünschen, dass dieses Lernen weiter möglich wäre. Wenn es nicht gelingt, die Neulandhalle in die Liste der Täterorte aufzunehmen und zu einem Lernort zu machen, muss sie abgerissen werden.
■ Der Autor ist Landesvorsitzender der Grünen in Schleswig-Holstein