Pillen gegen den GAU

In Schleswig-Holstein werden ab 20. Juni an Anwohner von Atomkraftwerken Jodtabletten ausgegeben. Die Rechnung zahlt der Wirt. Wann Niedersachsen loslegt, ist noch unklar

von Eiken Bruhn

Medikamente sollen in Zukunft Atomunfälle verhindern. Das jedenfalls suggeriert die Überschrift einer Pressemitteilung des schleswig-holsteinischen Innenministeriums. „Jodtabletten als Schutz vor Atomunfällen“, hieß es darin, und dass Schleswig-Holstein, Hamburg und Niedersachsen sich darauf geeinigt hätten, „die Menschen im Umkreis von Atomkraftwerken besser zu schützen“.

Tatsächlich geschieht das nicht etwa dadurch, dass durch die Einnahme von Pillen alle denkbaren menschlichen Fehler im Umgang mit atomarer Energieerzeugung vermieden werden. Die Jodtabletten, die im hohen Norden ab dem 20. Juni verteilt und akut bei einem Unfall eingenommen werden sollen, verhindern lediglich, dass sich radioaktives Jod in der Schilddrüse festsetzt und möglicherweise dort Krebs auslöst.

Gegen andere schädliche Strahlungen, die bei einem Reaktor-Unglück austreten, sei kein Kraut gewachsen, bestätigt der Strahlenbiologe Wolfgang Köhnlein. Bis 2004 war er stellvertretender Vorsitzender der unabhängigen Strahlenschutzkommission, die das Bundesumweltministerium berät. Die Kommission hat empfohlen, Haushalte im Umkreis von zehn Kilometern eines Atomkraftwerks vorsorglich mit Jodtabletten auszurüsten. Außerdem sollen im weiteren Umkreis bis 25 Kilometer Vorräte an zentralen Orten in den Gemeinden vorhanden sein.

Die einzelnen Länder haben unterschiedlich schnell auf diesen Rat reagiert. Während das Land Bremen nach Auskunft des Innensenators an jeder Stelle weiter als zehn Kilometer vom nächsten Atomkraftwerk entfernt ist, wollten Niedersachsen, Hamburg und Schleswig-Holstein gemeinsam aktiv werden. Vom Vorpreschen der Schleswig-Holsteiner vor drei Wochen sei man „überrascht“ gewesen, sagte gestern der Sprecher des Innenministeriums, Frank Rasche. „Wir hatten uns darauf verständigt, damit zu warten, bis der neue schleswig-holsteinische Innenminister im Amt ist.“ Deshalb müsse man über die Details wie den zeitlichen Ablauf noch reden.

Sein Kieler Kollege geht davon aus, dass sich am Zeitplan nichts ändert und der Abholschein Anfang Juni direkt mit der Stromabrechnung verschickt wird. Auch die Kosten für die Medikamente tragen die Energieerzeuger.

Der Strahlenexperte Köhnlein hält diese Maßnahmen für sinnvoll, da Jod auch bei kleineren Unfällen immer frei gesetzt und zu 100 Prozent im Körper behalten werde. Er plädiert allerdings anders als die Mehrheit der Strahlenschutzkommission dafür, Jod auch auch an Personen ab 45 Jahren auszugeben. Das ist bisher nicht vorgesehen, da Jodgaben nach Einschätzung von Experten bei älteren Menschen zu Komplikationen und schweren Störungen der Schilddrüsenfunktion führen können. „Das sollte man in Kauf nehmen, wenn man so verhindern kann, dass Krebs entsteht“, sagt Köhnlein. Schilddrüsenstörungen ließen sich sehr gut medikamentös behandeln. Im Osten Polens hätten die Behörden nach der Tschernobylkatastrophe Jod verteilt, ohne dass es danach in dem Ausmaß zu Erkrankungen gekommen sei, wie es in Deutschland befürchtet werde.

Das beste Mittel gegen Schäden durch radioaktive Strahlung sei allerdings immer noch ein Ende der Kernenergie, so Köhnlein. „Das ist eine gefährliche Technologie, die nicht vom Menschen beherrscht werden kann.“