Schneller als die GEW erlaubt

Unter Exchefin Eva-Maria Stange hat die Lehrergewerkschaft GEW das Image des Beamtenclubs abgestreift. Oft verzweifelte die Ostdeutsche an gewerkschaftlicher Ruhe. Die Zeit drängt – in zehn Jahren ist die Hälfte der Mitglieder pensioniert

AUS ERFURT ANNA LEHMANN

Bahnfahren mit Eva-Maria Stange ist eine Herausforderung für die Mitreisenden. „Kaum waren wir ausgestiegen, stürmte sie los, und nach zwei Minuten hatte ich sie auf dem Bahnhof aus den Augen verloren“, seufzt die Mitstreiterin Marianne Demmer in Erinnerung an die gemeinsamen Fahrten mit der GEW-Vorsitzenden zum Hauptsitz nach Frankfurt am Main.

Acht Jahre lang führte Eva-Maria Stange die Gewerkschaft der Lehrer, Erzieher und Betreuer und lotste sie in einen Veränderungsprozess, der aus der recht behäbigen Pädagogentruppe eine progressive Organisation machte, die Bildungspolitik mitbestimmt. „Vielleicht habe ich das Tempo der Kollegen manchmal unterschätzt“, sagt die 48-Jährige offenherzig. Nun ist sie ausgestiegen, aus privaten Gründen, sagt sie. Im September will sie wieder an einem sächsischen Gymnasium Mathe und Physik lehren. Den Vorsitz der GEW hat der Berufsschullehrer Ulrich Thöne übernommen, einer, der wieder stärker Politik für Lehrer machen will.

Die Lehrer sind die größte Gruppe innerhalb der GEW und stellen fast drei Viertel der rund 250.000 Mitglieder. Am Tag der Abdankung bilanziert Stange in Erfurt, wo sich die Delegierten zu ihrem 25. Gewerkschaftstag versammelt haben: „Ich denke wir sind einen ganzen Schritt vorangekommen, im Imagegewinn als Bildungsgewerkschaft.“ Aber sie weiß, dass dieser Ruf gefährdet ist. Gerade die Forderungen, die knappen Ressourcen stärker auf den Bereich Schule zu lenken, könnten dazu führen, dass die GEW wieder einseitig als Lehrergewerkschaft wahrgenommen werde, meint sie besorgt. Die Mathe- und Physiklehrerin mit der ausladenden Lockenfrisur hat das Bild der GEW geprägt. Gerade in der Post-Pisa-Zeit, als alle sich ratlos fragten, wieso wir und was nun, hat sie die Gewerkschaft als Reformmotor präsentiert. So proklamierte die GEW die „Schule für alle“, als Bildungspolitiker aller politischen Couleur noch meinten, dazu sei die Zeit noch lange nicht reif. Mit ihrer Gewerkschaft im Rücken forderte Stange vehement, Kindergärten als Bildungs- und nicht nur als Betreuungsanstalten auszurichten und warb für Ganztagsschulen als Regelfall.

Dass die 16 verschiedenen Landesverbände so geschlossen hinter dem Konzept der „Schule für alle“ ständen und die GEW heute als Modernisierer denn als Bewahrer dastehe, verdankten sie Stange, meint Demmer. „Das ist ihr enormes Verdienst.“

Dabei verdankte Stange ihre Wahl eher dem Zufall, wie sie meint. Als sich die GEWler 1997 in Chemnitz trafen, wurde der damalige Vorsitzende Dieter Wunder überraschend abgewählt. „Über Nacht mussten wir entscheiden, wie es weitergeht. Und da habe ich mich breitschlagen lassen – eine musste es ja machen“, sagt Stange lakonisch. Sie schien die geeignete Kompromisskandidatin: weiblich und mit 39 Jahren noch relativ jung im Vergleich zum mittelalten Lehrerkollegium. So wurde die promovierte Naturwissenschaftlerin, die vorher den sächsischen Landesvorstand geleitet hatte, die erste und bisher einzige Ostdeutsche an der Spitze einer Gewerkschaft.

Die Mitglieder diskutierten gerade über den Beitritt zur zu gründenden Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di. Stange war dafür, hier sah sie die Gelegenheit, den Bildungsbereich zusammenzuführen. „Und wenn sie von etwas überzeugt war, dann richtig, und dann gab es für sie kein Halten mehr“, erzählt Marianne Demmer. Die Mehrheit der GEWler wollte eigenständig bleiben. So prallte die neue Vorsitzende in ihren Bemühungen um den Beitritt auf eine Abwehrfront. „Sie machte Grenzerfahrungen“, meint Demmer vorsichtig. Und sie ging weiter. Mit oder ohne Ver.di, die GEW musste sich verändern. Das Projekt, das ihren Vorgänger Dieter Wunder die Wiederwahl gekostet hatte, machte sich Stange zu Eigen.

Energisch ging sie an den Umbau der Gewerkschaft zu einer Organisation, die Bildung nicht auf Schule reduziert, sie lenkte Ressourcen auf die unterrepräsentierten Bereiche innerhalb der GEW und verschaffte den Sozialpädagogen, Erzieherinnen und Weiterbildern stärkeres Gewicht. Damit machte sie sich gerade in den westlichen, von Beamten geprägten Landesverbänden nicht nur Freunde. „Sie musste lernen, wie man mit 16 Landesverbänden und solchen gestandenen Männern wie mir umgeht“, meint NRW-Landeschef Jürgen Schmitter und muss rückblickend schmunzeln. Stange lernte zuvorderst Geduld. „Ich bin durch eine Zeit gegangen, die von schnellen politischen Veränderungen geprägt war. Und wenn bei uns im Landesverband Sachsen etwas beschlossen wurde, dann hat man eine Woche später beraten, wie es umgesetzt wird. Im Westen dagegen wird nach drei Monaten die erste Versammlung einberufen“, meint sie, und es klingt nicht so, als hätte sie sich mit der langsamen Gangart ausgesöhnt.

In ihrer zweiten Amtszeit, die sie mit 80 Prozent Zustimmung antrat, avancierte Bildung zum Topthema. Stange und die Beamtenlobby vereinbarten Waffenstillstand, denn jetzt war Geschlossenheit wichtig, um die eigenen bildungspolitischen Anliegen in die Gesellschaft zu tragen.

Die GEW suchte und fand Verbündete. In Schleswig-Holstein kopierten die Grünen die „Schule für alle“ und machten daraus „Neun macht schlau“. Die SPD schrieb das Konzept unter dem Originaltitel in ihr Wahlprogramm. In Sachsen-Anhalt war die GEW Teil des Bildungsbündnisses, das ein Volksbegehren initiierte, damit Kinder von Arbeitslosen einen Anspruch auf Ganztagsbetreuung in Kindertagesstätten behalten. Beide Projekte scheiterten.

Eva-Maria Stange lässt den Kopf nicht hängen. „Wir sind ein ganzes Stück weitergekommen in dem Mitnehmen der Gesellschaft. Und ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass dieser Druck, der dann aus der Gesellschaft kommt, in die Parteien getragen wird.“ Dabei müsse die GEW noch andere Partner gewinnen, zum Beispiel solche Nichtregierungsorganisationen wie Attac.

Im Inneren fehlt es der GEW vor allem an Nachwuchs. Nicht nur, um den in allen Gewerkschaften gegenwärtigen Mitgliederschwund auszugleichen. In zehn Jahren wird knapp die Hälfte aller aktuellen Mitglieder pensioniert sein. Sie zu halten und neue zu gewinnen, wird für die GEW auch finanziell zu einer Notwendigkeit. „Die Jungen wollen projektgebunden arbeiten, für sie ist es nicht mehr selbstverständlich, ihre ganze Freizeit in Gewerkschaftsarbeit zu stecken“, meint Stange Deshalb müsse sich die Organisation auch strukturell weiter verändern, hin zu einer alltagstauglichen Gewerkschaft. Angesichts des Problemdrucks gehen Eva-Maria Stange die Veränderungen etwas zu langsam. „Wir müssen noch schneller werden.“