Dracula beißt doch nicht

Europa 2005: Frankreich streitet über die EU-Verfassung. Osteuropa feiert ernüchtert. Von Rumänien und Bulgarien spricht niemand. Dabei wird ihr Beitritt Europas Selbstverständnis wirklich verändern

VON NICK REIMER

Letzte Umfragen sehen die französischen Eurokritiker leicht vorn: 52 Prozent der Befragten haben mit der EU-Verfassung nichts am Hut. Ende Mai wird abgestimmt. Letzte Umfragen sehen auch die Eurokritiker in den osteuropäischen Staaten in der Mehrheit: Ein Jahr nach dem Beitritt der Staaten aus Mittel- und Osteuropa ist der überwiegende Teil der 74 Millionen Neu-Europäer ernüchtert. Trotzdem wird am Wochenende gefeiert.

Umfragen zum EU-Beitritt Rumäniens oder Bulgariens sucht man dagegen vergeblich. Dabei hat die Europäische Gemeinschaft gerade beschlossen, beide Staaten in 20 Monaten in ihren Kreis aufzunehmen.

Und? Kribbelt’s? Wollen sie mehr wissen?

Dracula, Ceaușescu, Schwarzes Meer, Mafia und die Straßenkinder von Bukarest – Rumänien und Bulgarien sind ferne Länder, über die man wenig weiß, aber viele Klischees pflegt. Zwanzig Monate können eine lange Zeit sein, aber in diesem Fall sind sie zu schnell vorbei – eine diffuse Angst vor dem Beitritt bestimmt die Gefühlslage in den EU-Ländern. Denn er wird die Gemeinschaft wesentlich stärker verändern, als jene Beitrittswelle, deren erstes Jubiläum an diesem Wochenende gefeiert wird. Estland, Polen, Ungarn – erst die Aufnahme der Staaten zwischen Donau und Narva hat die Europäische Union zu einer Union Europas gemacht. Der Beitritt Rumäniens und Bulgariens wird sie wieder öffnen: für eine Mitgliedschaft der Türkei.

Zwar herrschte 40 Jahre lang zwischen Riga und Budapest ein Gesellschaftssystem, das mit den Werten des Westens unvereinbar war. Was aber sind 40 Jahre angesichts einer christlich-abendländischen Kultur, die in tausend Jahren aus Europa formte, was es heute ist. Dieses Europa ist nicht beschreibbar ohne die Schlacht am Peipus-See (wo nach der Niederlage der Kreuzritterorden die Globalisierung des Christentums Richtung Osten gestoppt wurde), ohne den Fenstersturz zu Prag (der den 30-jährigen Krieg auslöste), ohne die kaiserliche und königliche österreichisch-ungarische Monarchie.

Das ist mit Rumänien und Bulgarien anders: Ihre Geschichte speist sich aus der Orthodoxie, aus jenem Glauben, der sich als der Richtige bezeichnet. Tief im Byzantinischen Reich verwurzelt, ist sein Zentrum Konstantinopel, das heute Istanbul heißt. Bulgarien mit acht Millionen Gläubigen gilt als Zentrum der slawischen Orthodoxie. Die Rumänische orthodoxe Kirche ist mit 20 Millionen Mitgliedern die zweitgrößte weltweit. Zwar orientieren sich auch die jungen Eliten Rumäniens und Bulgariens an den westlichen Werten, aber ihr kulturelles Selbstverständnis fußt auf der orthodoxen Tradition.

In dieser Hinsicht ist ihr Beitritt begrüßenswert: Europa wird um eben jenes kulturelle Selbstverständnis erweitert, das bislang nur von einer griechischen Minderheit vertreten wurde. Bedeutete Erweiterung bisher kulturelle Vertiefung des europäischen Gedankens, ist diese Erweiterung eine kulturelle Zugabe.

Von den EU-Strategen ist das gut durchdacht: Gelingt die Integration Bulgariens und Rumäniens, haben sie ein weiteres Argument für einen Beitritt der Türkei. Lässt sich nämlich das orthodoxe Weltbild in Europa integrieren, warum sollte die Gemeinschaft dann nicht auch stark genug für 80 Millionen Türken sein? Und schließlich sind Rumänien und Bulgarien Folgestaaten jenes Osmanischen Reiches, das die Türken ihre Wurzeln nennen.

Die deutschen Konservativen haben diesen Zusammenhang erkannt. CSU-Chef Edmund Stoiber forderte Bundeskanzler Gerhard Schröder gerade auf, den Beitritt Rumäniens und Bulgariens besser zu prüfen – und zu verschieben. Dummerweise obliegt ihm derzeit die Deutungshoheit: Es gibt nicht einmal unter den Intellektuellen in Deutschland eine Diskussion über die Beitritte. Die Haltung der deutschen Außenpolitik lässt sich nur als ausgesprochen lustlos beschreiben. Und die Realpolitik beschränkt sich auf ein Argument der Hoffnung: Rumänien und Bulgarien werden in 20 Monaten die Brüsseler Beitrittsauflagen sowieso nicht erfüllt haben.

Was aber, wenn doch? Die Abstimmung in Frankreich wird auch darüber entscheiden. Die Franzosen stimmen nämlich nicht nur über eine neue Verfassung Europas ab, sondern – wenn auch nicht direkt – über die europäische Erweiterungspolitik. Es war die Regierung in Paris, die sich einst im Europäischen Rat stark für seinen alten Bündnispartner Rumänien einsetzte. Obsiegen Frankreichs Eurokritiker, müssen Bulgarien und Rumänien warten.