„Vielleicht ist Münteferings Moralismus doch richtig“, sagt Friedhelm Hengsbach

Kein Wunder, dass Kardinäle und SPD gemeinsam die Manager kritisieren: Der Kapitalismus ist auch eine Religion

taz: Herr Hengsbach, auch katholische Bischöfe unterstützen inzwischen SPD-Chef Müntefering und kritisieren den Kapitalismus …

Friedhelm Hengsbach: … nein, sie kritisieren einzelne Kapitalisten. Der Berliner Kardinal Georg Sterzinsky hat „das Fehlverhalten von Menschen“ moniert.

Sie klingen enttäuscht.

„Fehlverhalten“ ist eine moralische Kategorie. Wie bei Müntefering werden die Strukturen nicht in Frage gestellt, sondern auf der individuellen Tugendebene verhandelt. Das passt zur bisherigen Arbeitsdebatte in Deutschland: So wie jetzt den Managern Geldgier vorgeworfen wird, so wurde den Erwerbslosen pauschal unterstellt, dass sie faul seien und deswegen keine Stelle fänden.

Aber ist denn von der Kirche mehr zu erwarten als ein rein moralischer Appell an Firmenchefs? Schließlich verstehen sich Papst und Kardinäle als oberste Tugendwächter.

Die katholische Kirche war schon weiter. 1931 hat Papst Pius XI. in seinem Sozialrundschreiben die „geballte Macht der Monopole“ kritisiert. Er beobachtete einen „Imperialismus des Finanzkapitals“ und sah, wie die Wirtschaft die Macht in den Staaten übernimmt.

Direkt nach dem Börsencrash von 1929 war solch harsche Kapitalismuskritik nicht wirklich überraschend.

Ähnliches findet sich auch 1967 im Entwicklungsrundschreiben von Paul VI. Und der letzte Papst, Johannes Paul II., stellte nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die ketzerische Frage, ob der ungezähmte Kapitalismus tatsächlich das siegreiche System sei. Er wandte sich gegen Ausgrenzung, Ausbeutung, Entfremdung und die absolut gesetzte wirtschaftliche Freiheit.

Wird sein Nachfolger Ratzinger diese moderate Kapitalismuskritik fortsetzen?

Ratzinger ist ein hochkarätiger Intellektueller; zu ökonomischen Fragen hat er sich aber bisher nicht geäußert. Zudem ist er eher im akademisch-bürgerlichen Milieu angesiedelt. Ausgegrenzte sind nicht seine Welt und ihm eher fremd. Es ist zwar möglich, dass er sich neue Perspektiven erarbeitet. Aber eigentlich ist für ihn Glauben eine Frage des Denkens und des Wissens – für mich ist Glauben Handeln. Er bezieht sich sehr einfühlsam auf die Einzelperson – für mich stehen soziale und politische Fragen im Vordergrund.

Wenn nun auch deutsche Kardinäle die Ökonomie entdecken und Müntefering stützen: Haben sie dann die gleichen Motive wie die SPD? Dort will man offensichtlich Wähler ansprechen – möchte die Kirche Gläubige zurückgewinnen?

Sterzinskys Worte wirken sympathisch. Nun fühlen sich all jene an der katholischen Basis ermutigt, die im Kontakt sind mit Attac oder mit Betriebsräten und die sich bisher zurückgehalten haben.

Weil die Kirchenspitze unter Kardinal Lehmann die Arbeitsmarktreformen Hartz IV so euphorisch begrüßt hat?

Lehmann hat sich einen sozialen Impulstext von Unternehmensberatern und Managern schreiben lassen. Ohne arbeitslose Christen zu befragen. Das hat viele an der Basis frustriert. Inzwischen hat Lehmann allerdings eingelenkt.

Wird sich die katholische Kirche also stärker in soziale Themen einmischen?

Das wird schwierig. Die sinkende Zahl der Gläubigen führt zu einem Spardruck, der nur noch die Kerngeschäfte Liturgie, Seelsorge und Religionsunterricht übrig lässt. Für Bildung, Weiterbildung und soziales Engagement fehlen die Mittel. Zudem profitieren Caritas und Diakonie von Hartz IV und den Ein-Euro-Jobs. Sie fallen als Anwälte für die Betroffenen aus und werden zu deren Arbeitgebern.

Kann das die Zukunft der katholischen Kirche sein: fast nur noch Liturgie und Seelsorge für die eigene Klientel?

Es entspricht dem Trend. Gerade bei jungen Leute gilt das Motto: „Erlebe dein Leben.“ Glauben soll angenehme Empfindungen erzeugen, soll dramatisches und exotisches Spektakel bieten. Wenn der Papst das Hochamt singt und die Völker segnet, dann ist er Schauspieler und Kultfigur. Ein weiser Führer, der nicht so diszipliniert wie die eigenen Eltern und der nicht so funktional argumentiert wie die Politiker.

Bei diesem Trend zur Innerlichkeit: Müssen wir uns auf weitere Bußpredigten gegen gierige Manager und Kapitalisten einstellen?

Wahrscheinlich. Aber immerhin: Obwohl die Kirchen und Müntefering sich auf moralische Rhetorik beschränken, blitzt doch eine entscheidende Erkenntnis auf. Sie sehen ein, dass sie die ökonomischen Probleme nicht beim Arbeitsmarkt, sondern bei den Finanzmärkten verorten müssen. Dass man politisch gegen hochspekulative Fonds und gegen freie Bankzonen vorgehen muss.

Den Finanzmärkten ist doch mit Tugend nicht beizukommen.

Wer weiß. Vielleicht reicht es nicht, den Kapitalismus nur sozialökonomisch zu analysieren. Vielleicht hat Müntefering mit seiner Moralpredigt eine richtige Ebene erwischt: Kapitalismus ist eine Weltanschauung und eine Religion, die sich nicht nur rational verhandeln lässt. Die Wucht der marktradikalen Propaganda ist wohl nur zu begreifen, wenn man sie auch religiös versteht. Gleiches gilt für die Aufregung, mit der die Metallarbeitgeber auf Müntefering reagiert haben: Ihr Chef Kannegießer tut so, als ginge es um sein Seelenheil. Das klingt entlarvend religiös.

INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN