LIBANON: DIE SYRER SIND NICHT MEHR AN ALLEM SCHULD
: Land der Einmischung

Fast 30 Jahre nach ihrem Einmarsch und vier Tage vor ihrem offiziellen Abzug verließen gestern die letzten syrischen Truppen den Libanon. Ein Kapitel Nahostgeschichte ist abgeschlossen. Doch vom nächsten Kapitel ist noch nicht einmal der Anfang geschrieben. Der Libanon wird in eine unbekannte Zukunft entlassen. Der bloße Hinweis: „Die Syrer sind schuld“ reicht nun nicht mehr aus. Nun heißt es für die Libanesen, Eigenverantwortung zu übernehmen. Manches Problem, etwa die Korruption, wird sich schnell als hausgemacht erweisen.

Sicher ist, dass das neue Kapitel viel mit einem viel älteren zu tun haben wird. Längst vergessene Probleme, die zum Bürgerkrieg geführt haben, stehen wieder auf der Tagesordnung: Wie wird die Machtaufteilung zwischen den verschiedenen Konfessionsgruppen neu arrangiert? Was geschieht mit der bis auf die Zähne bewaffneten schiitischen Hisbollah als Staat im Staate? Wie geht es mit den 250.000 palästinensischen Flüchtlingen im Land weiter? Und wie gestalten sich die Beziehungen zum israelischen Nachbarn? Jedes einzelne Problem birgt enormen Sprengstoff in sich, auch wenn es dank relativ frischer Bürgerkriegserinnerung im Moment noch libanesischer Konsens zu sein scheint, dass die Differenzen friedlich ausgetragen werden.

Die Versuchung ist groß, das neue politische Vakuum und die widerstreitenden libanesischen Akteure auszunutzen. Damaskus könnte Öl ins Feuer gießen, um zu beweisen, dass es ohne die Syrer keinen Frieden gibt. Und Washington könnte weiteres politisches Kapital aus dem Libanon schlagen, indem es Druck ausübt, ein Modellstaat für seine Nahostpolitik zu werden. Sprich: auf eine sofortige Entwaffnung der Hisbollah zu bestehen und vom Libanon zu fordern, dem israelischen Nachbarn die Hand zu reichen. Am Ende würde sich bei all diesen Szenarien aber eine alte libanesische Erfahrung bewahrheiten: Jede Einmischung von außen schafft Chaos, in das alle Akteure hineingezogen werden. Das neue Kapitel der libanesischen Geschichte wird umso besser, je mehr Text von den Libanesen selbst stammt. KARIM EL-GAWHARY