Deutschland hat die Supernull

Die Wirtschaftsinstitute halbieren ihre Konjunkturprognose für 2005 auf 0,7 Prozent und sehen ein grundlegendes Wachstumsproblem. Kritiker fordern, endlich vom Wachstumswahn wegzukommen

BERLIN taz ■ Das politische Deutschland hat nach der moralischen Debatte über die Macht des Kapitals gestern wieder ökonomische Fakten präsentiert bekommen. Die sechs führenden Wirtschaftsinstitute legten in Berlin ihr Frühjahrsgutachten vor, und es kam härter als erwartet: Für das laufende Jahr rechnen sie nur noch mit einem Wirtschaftswachstum von 0,7 Prozent. Noch im Herbst hatten sie 1,5 Prozent geschätzt, die Bundesregierung rechnete gar mit 1,6 Prozent. Damit werden die Steuern niedriger liegen als erwartet, die Zahl der Arbeitslosen mit durchschnittlich 4,84 Millionen höher als 2004.

Die Institute empfahlen angesichts des damit drohenden ansteigenden Staatsdefizits noch mehr Reformmaßnahmen: ein Streichen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, niedrigere Steuern und den weiteren Abbau von Subventionen. Der Staat solle sich weiter zurückziehen.

Die Regierung versuchte dem Ganzen noch etwas Gutes abzugewinnen. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) nannte die Wachstumszahlen zwar „nicht so schön“. Sein Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) jedoch sah „trotz Kritik im Detail“ den Reformkurs der Bundesregierung „bestätigt“. Werner Schulz, wirtschaftspolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, meinte: „Die gegenwärtige Wachstumsdelle hat eine ihrer wesentlichen Ursachen im hohen Ölpreis. Unsere Strategie ‚Weg vom Öl!‘ ist die richtige Antwort.“ Dummerweise konstatierten die Konjunkturforscher gestern, dass von 2001 bis 2004 das Inlandsprodukt im Schnitt auch nur um 0,6 Prozent gewachsen sei – für eine Delle also ein ziemlich langer Zeitraum. Die Opposition sprach von einem „viel zu zögerlichen Reformkurs“ und sah ein weiteres Haushaltsloch von 15 Milliarden Euro auf den Bund zukommen.

Einen ganz anderen Ansatz vertritt der Heidelberger Wirtschaftsforscher Hans Diefenbacher. Er fordert in der taz, sich endlich mit dem kaum vorhandenen Wachstum abzufinden. Dazu müsste das vorhandene Geld neu verteilt werden. Spielraum dafür sieht Diefenbacher, schließlich sei das deutsche Nationaleinkommen so hoch wie noch nie. Der bekannte Ethikprofessor Friedhelm Hengsbach hingegen warnt davor, die Schuld bei einzelnen „unmoralischen“ oder „gierigen“ Wirtschaftsführern zu suchen. Diese Kritik der SPD und mancher katholischer Bischöfe gehe am Kern der Sache vorbei: „Die ökonomischen Probleme sind nicht beim Arbeitsmarkt, sondern bei den Finanzmärkten zu verorten“, sagte Hengsbach der taz. REM

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