Fotografisches Gedächtnis des Ruhrgebiets

Das Pixelprojekt Ruhrgebiet wird weiter ausgebaut. Eine Jury entschied über die Neuaufnahmen in die Online-Datenbank, die jetzt im Gelsenkirchener Wissenschaftspark erst einmal live präsentiert werden

Am Anfang standen Kisten mit unsichtbaren Bilder

Wie das Gedächtnis fand auch das Pixelprojekt_Ruhrgebiet seinen Anfang im Kopf. Dieser Kopf gehört Peter Liedtke (46), Ruhrgebietsfotograf und typischer Ruhrgebietsbewohner: geboren in Gelsenkirchen, wohnhaft in Herne, arbeiten im Essener Atelier. Schon während des Studiums waren es nicht die klassischen Fotografie-Sparten wie Portrait, Reportage, Reise oder Natur, die Liedtke faszinierten, sondern vielmehr seine Heimatregion in all ihren Widersprüchlichkeiten. Bereits 1986 zeigte er in Essen und Gelsenkirchen eine Ausstellung mit dem Titel „Ruhrgebietsnatur“. Der umwälzende strukturelle Wandel des Ruhrgebiets war Thema verschiedener, auch internationaler Arbeiten wie z.B. der Ausstellung „The Duisburg-Nord landscape parc“, die 1993 im Kulturpalast Nishni Tagil in Russland gezeigt wurde oder die Beteiligung an Ausstellungen wie „Schwarzweiß und Farbe“ 2000/2002 in Essen und der Royal Danish Academy of Fine Arts, Kopenhagen. Wichtigstes Merkmal seiner Fotografien ist die eigene Aussage der Bilder, ihre Erzählung über und mit dem Dargestellten. Im Laufe seines Schaffens entdeckte Liedtke ähnlich arbeitende, dem Begriff der „Autorenfotografie“ folgende Kollegen in unmittelbarer Heimat-Nähe wie Brigitte Kraemer oder Joachim Schumacher.Mit der Zeit stellte sich für Liedtke immer häufiger die Frage nach dem Verbleib ihrer Bilder. Mit Ende der Ausstellungen waren die Fotografien verschwunden, schlummerten schlicht in Mappen, Kartons und Schubladen, ohne dass eine breite Öffentlichkeit sie je wieder zu Gesicht bekam. Einige erhielten noch eine Dokumentation in Katalogen oder erschienen stark reduziert, häufig durch die Auswahl anderer uminterpretiert oder gar fehlgedeutet in Büchern und Zeitschriften. Grundsätzlich blieben die Bilder die meiste Zeit unsichtbar.

Internet und Gedächtnis

Die Autorenfotografie des Ruhrgebiets als wachsendes, regionales Gedächtnis zugänglich zu machen, wurde deshalb Kern der Überlegungen. Deutlich war, dass Liedtke nicht allein dieses Bild erstellen konnte, obwohl „ich es gerne gemacht hätte“ wie er rückblickend verrät. Sein Interesse galt nicht allein dem einzelnen Motiv, sondern der seriellen Darstellung. Mit Beginn des neuen Jahrtausends und der immer alltäglicher nutzbaren virtuellen Welt schuf das Internet dann den geeigneten Raum. Erstmals war eine dauerhafte, öffentlich zugängliche, wachsende und flexible Fotosammlung möglich und mit dieser Plattform war auch das Pixelprojekt_Ruhrgebiet geboren.

Beistand aus dem Ministerium

2001 sammelte Peter Liedtke interessierte Kollegen aus der reichhaltigen Fotoszene des Ruhrgebietes um sich und machte sich auf den beschwerlichen Weg der Realisierung dieser Idee vom regionalen Gedächtnis für die Region. Finanzielle, technische und künstlerische Hilfe musste gefunden werden. Schon bald gelang es Reinhard Krämer, im Kulturministerium NRW zuständig für die regionalen Kulturförderung, zu überzeugen, so dass dieser entsprechende Fördermittel in Aussicht stellte. Jochen Stemplewski, Chef der Emschergenossenschaft, begeisterte sich für den Gedanken eines virtuellen Museums über das Ruhrgebiet, verfügte sein Haus doch allein über 40.000 belichtete Glasplatten. Der Kulturserver NRW bot seine Mitwirkung bei der Erstellung der Webseite an. Weitere Kooperationspartner sind inzwischen der Wissenschaftspark Gelsenkirchen, die TreuHandStelle GmbH (THS), die Sparkasse Gelsenkirchen, das Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher, das Kulturamt der Stadt Gelsenkirchen, das Ruhrlandmuseum Essen und der Deutsche Werkbund. Von der Idee zur tatsächlichen Umsetzung gelangte Pixelprojekt_Ruhrgebiet dann 2003. Fotografinnen und Fotografen wurden eingeladen mit ihren Ruhrgebiets-Fotoserien an einem ersten Wettbewerb teilzunehmen, in dessen Verlauf eine hochkarätige Jury die ersten Bilderreihen für die Webseite auswählte. Im März 2004 schließlich feierten mehr als 500 Gäste im Wissenschaftspark Gelsenkirchen die erste Freischaltung der Internetseite und die Ausstellung der ersten ausgewählten Ruhrgebietsfotografien.

Die Botschaft

Wenn nun die neue Internetseite freigeschaltet wird, ist das Pixelprojekt_Ruhrgebiet auf über 1.700 Fotografien angewachsen. Wollte man diese alle zeigen, müsste man alle Etagen des Wissenschaftsparks in Gelsenkirchen bespielen und mindestens ein zweites Gebäude gleicher Größe daneben stellen. Besucher müssten sehr viel Zeit mitbringen, um in diese verschiedenen Welt- oder eher Regionalsichten einzutauchen. Aber man hätte die ungeheure Chance, die Region aus den Augen anderer zu sehen, unbekannte Räume zu betreten und neu zu verstehen. Aktuell haben sich 82 Fotografinnen und Fotografen aus dem gesamten Bundesgebiet und den USA im Sommer 2004 beworben. Die Jury wählte 45 Fotoserien von 39 Fotografen zu den Themen “Stadt/Architektur“, „Menschen/Soziales“, „Landschaft/Ökologie“, “Kultur/Sport“ und „Arbeit/Produktion“ aus. Die Ausstellung wurde zusätzlich Referenzveranstaltung der Kulturhauptstadtbewerbung 2010 „Essen für das Ruhrgebiet“. Spätestens jetzt zeigt sich, dass Pixelprojekt_Ruhrgebiet auch Ausdruck politischen Engagements ist. Bereits während der Vorbereitungen in den Jahren 2002 und 2003 wurde die Kunstinitiative „KünstlerInnen für Frieden“ organisiert. Eine Künstlerdelegation aus dem Ruhrgebiet erhielt daraufhin eine Einladung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder, denn der zweite Irakkrieg drohte und war das alles beherrschende Thema der Zeit.

Die Macht der Bilder war vielfach Thema der Diskussion, an der auch Kulturministerin Christina Weiss teilnahm, prägen doch die Fotografen als Macher dieser Bilder das Verständnis von politischen, kulturellen oder wirtschaftlichen Zusammenhängen nachhaltig. Der entscheidende Unterschied zu anderen fotografischen Veröffentlichungen besteht darin, das es ein selbstorganisiertes Projekt der Fotografinnen und Fotografen ist, die keinem Auftrag, außer dem eigenen folgen. Und in dieser Vielheit könnte Wahrheit stecken.

Die Ausstellung

Am 02. Mai wird die Fotoausstellung des Pixelprojekt_Ruhrgebiet im Wissenschaftspark Gelsenkirchen eröffnet. Bis Ende Juni ist die Auswahl der neu aufgenommenen Fotoserien über das Ruhrgebiet zu sehen. Am selben Tag wird auch die Internetseite mit allen bisher ausgewählten Bilderserien freigeschaltet. Sie bildet mit dann über 1.700 sichtbaren Fotografien den Anfang des fotografischen Gedächtnisses der Region. SILKE WILTS