Wirrwarr von Lebensfäden

Wie einem auf die Spur kommen, der viele zu sein behauptete? Roswitha Quadflieg liest aus „Requiem für Jakob“

Wer war einer, der vorgab viele zu sein? Einer, der je nach Situation die passende Lebensgeschichte vorzutragen wusste, der klug war und charmant. In welchem Licht erscheinen Lüge und Fälschung der eigenen Geschichte, wenn dieser eine ein Jude war – in einer Zeit, da das ein Todesurteil bedeutete? Wie ihm auf die Spur kommen, die fast ein ganzes Jahrhundert durchzieht?

1906 in Metz geboren, 1997 in Hamburg gestorben – Jakob Birnbaum. Den Namen hat ihm die Hamburger Autorin Roswitha Quadflieg ausgesucht, den Mann dahinter hat es gegeben. In Requiem für Jakob dokumentiert sie ihren Versuch, den Lebenslauf einer schillernden Persönlichkeit zu rekonstruieren. Die Annäherung an einen faszinierend uneindeutigen Charakter: „Überleben wollen als Lebensmotiv. Egal wie. Ob als Jude oder Christ, als Kommunist, bedürftiger Rentner, Widerstandskämpfer oder Kollaborateur.“

Jakob Birnbaum also, deutsch-französischer Jude, der früh straffällig wird und ein Drittel seines Lebens in Gefängnissen verbringt. Der 1940 in Paris fünf Jahre Haft erhält, aber 1941 – unter dem Namen Jacques Prout und plötzlich Katholik geworden – Teilhaber eines Baugeschäfts wird und bis zum Abzug der Deutschen bleibt. Der behauptet, für die Résistance gekämpft zu haben und im Konzentrationslager gewesen zu sein. Und der viel später, wieder unter altem Namen, Entschädigungen fordern wird. Aber die Verurteilung von 1947, wegen Kollaboration?

Im Wirrwarr der Lebensfäden ist dies ein Knotenpunkt. Quadflieg will wissen, was ab 1941 in Frankreich geschah, reist, stellt Anträge auf Akteneinsicht, spricht mit Verwandten des ehemaligen Geschäftspartners, mit Staatsanwälten – und mit psychiatrischen Gutachtern. Denn seit Kriegsende fühlt Jakob sich verfolgt durch „Die“: sieben Gestalten, die ihn mit Hilfe streng geheimer „Beobachtungsapparate“ malträtieren. Er schreibt Petitionen an diverse Bundeskanzler, legt eine Akte an, die er auch der Jüdischen Gemeinde zukommen lässt. „Seine Toten“ aber wird er nicht verraten. Wer sind diese Toten? Reale Opfer seiner Kollaboration? Wie verschieben sich hier die Orte von Opfern und Tätern?

Quadflieg legt die Mosaiksteine offen. Ein moralisches Urteil gibt sie nicht ab. Sie verhehlt ihre Sympathie für Jakob Birnbaum nicht, und die ist ansteckend. Nach der Lektüre Distanz zu schaffen, ist nicht ganz leicht. Aber notwendig, um sich eigene Gedanken machen zu können über diese Lebensgeschichte, in der sich das Aberwitzige so mit dem Abgründigen verbindet, mit den Fragen nach Schuld und Verantwortung. Carola Ebeling

Roswitha Quadflieg: Requiem für Jakob. Eine Spurensuche, Frankfurt/M. 2005, 347 S., 28,50 Euro.Lesung: Do, 28.4., 20 Uhr, Literaturzentrum, Schwanenwik 38