Zur Parteinahme genötigt

War die Schweiz im Zweiten Weltkrieg wirklich neutral? Frédéric Gonseths Dokumentation „Mission des Grauens“ bezweifelt es

Die Schweizer Rotkreuzmission durfte nur deutschen Verwundeten helfen

Der Titel lässt an einen Spielfilm denken. „Mission des Grauens“ heißt die 90-minütige Dokumentation des Schweizer Regisseurs Frédéric Gonseth, der aus Zeitzeugeninterviews, historischem Filmmaterial und Archivalien ein weitgehend unbekanntes Kapitel der eidgenössischen Kollaboration mit Nazi-Deutschland nachzeichnet. Und tatsächlich war wohl oft Abenteuerlust im Spiel, als rund 250 Schweizer, Ärzte, Krankenschwestern, Sekretärinnen und Chauffeure, einem Aufruf des Roten Kreuzes folgten und sich freiwillig für eine vermeintlich humanitäre Mission an die deutsche Ostfront meldeten.

Was die Freiwilligen auf ihren Missionen nach Smolensk, Warschau, Riga, Pskow und Donezk zwischen Oktober 1941 und März 1943 sahen, ließ sie zu Zeugen des deutschen Vernichtungskrieges werden. Fast alle führten akribisch Tagebuch. Schon auf der Anreise im Zug entdeckten sie beim Blick aus dem Fenster, dass das Nachbargleis mit den Leichen sowjetischer Kriegsgefangener übersät war. „Der Zugkommandant erklärte uns, wir sollten nicht erschrecken. Innert kurzer Zeit zähle ich hundert“, vertraute der Arzt Ernst Gerber seinen Aufzeichnungen an. Als der Zug einmal neben einem Lager mit sowjetischen Kriegsgefangenen hielt, erinnerten die ausgehungerten und apathischen Insassen den konsternierten Baseler Arzt Rudolf Bucher an „Geisteskranke im Hof einer Irrenanstalt“.

Ernüchternd auch die Ankunft in Smolensk: „Man kann sagen, die Stadt existiert nicht mehr“, notierte der Chirurg Hubert de Reynier. Sofort ging es an die Arbeit, denn die deutschen Truppen waren beim Angriff gegen Moskau auf unerwarteten Widerstand gestoßen: „Amputationen. Heute Nachmittag Exitus der Amputation von heute Morgen“, beschrieb de Reynier seine Arbeit. Das nichtmedizinische Personal musste mit anpacken und fiel reihenweise in Ohnmacht. Mit einem Stück Brot zwischen den Zähnen sei es besser gegangen, erinnert sich eine Sekretärin. Unterlegt sind die Erinnerungen mit der Archivaufnahme einer Amputation. Unter Mühe sägt ein Arzt den Oberschenkel des Patienten ab. Langsam löst sich das Bein. Der blutige Stumpf bleibt eine ganze Weile im Bild.

Erst allmählich begriffen die Freiwilligen, dass sie sich ausschließlich um deutsche Verwundete zu kümmern hatten und ihnen die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener und Zivilisten verboten war. Das vertrug sich zwar nicht recht mit dem humanitären Anspruch der Reise, wurde aber stillschweigend akzeptiert. De Reynier berichtet in seinem Tagebuch, dass einmal ein sowjetischer Gefangener vor der Tür des Lazaretts zusammengebrochen sei: „Ich blieb da, wie die anderen, die vom Fenster aus zuschauten. Meine Pflicht als Arzt, als Mensch habe ich nicht erfüllt, aus Angst vor Unannehmlichkeiten mit unseren Gastgebern.“

„Zur Kenntnis genommen“ habe man solche letztlich doch unübersehbaren Bilder, sagt der Baseler Gehirnchirurg Gerhard Weber im Interview. Denn was habe man schon tun können? Einige der Zeitzeugen wollen bis heute nicht wahrhaben, dass sie für politische Interessen instrumentalisiert wurden.

Schuld daran war ein Schweizer Geheimabkommen mit der Reichsregierung, welches das medizinische Personal des Roten Kreuzes entgegen aller öffentlichen Ankündigungen dem Kommando der Wehrmacht unterstellt hatte. So ist es auch in den Personalausweisen der Missionsmitglieder nachzulesen. Weder Hitler noch Stalin hatten die Genfer Landkriegskonvention anerkannt. Als deren Hüter hatte das Rote Kreuz in diesem Krieg weder mitzureden noch irgendein Interesse daran, seine Einflusslosigkeit publik zu machen.

Mit dem militärischen Rückzug der Deutschen wurde die vierte Schweizer Mission Anfang 1943 überstürzt abgebrochen. In der Heimat wurden die Heimkehrer mit Klagen über die kriegsbedingte Rationierung der Butter konfrontiert. Von den Massakern im Osten wollte niemand etwas hören. „In Bern haben wir von dem Ghetto erzählt und dass dort solche Zustände herrschen. Aber sie glaubten uns nicht“, berichtet die Krankenschwester Charlotte Bissegger-Brero. Mehrere Missionsmitglieder übergaben ihre Berichte und Zeugnisse der Schweizer Armee oder der Regierung.

Einige wenige versuchten auf eigene Faust an die Öffentlichkeit zu gehen. So der Arzt und Leutnant Rudolf Bucher, der in medizinischen Vorträgen Fotos von sowjetischen Kriegsgefangenen und vom Friedhof des Warschauer Ghettos zeigte. Daraufhin drohte man ihm mit unehrenhafter Entlassung aus der Schweizer Armee und verbot ihm weitere öffentliche Vorträge. 1944 appellierte Bucher in einem offenen Brief an die Schweizer Regierung, „würdevoll gegen diese entsetzlichen Ereignisse bei der Regierung des Deutschen Reiches zu protestieren, um den noch lebenden Juden dieses schreckliche Schicksal zu ersparen.“

In Gonseths Film gibt es zwei Antworten auf die Frage, warum sich die Schweiz überhaupt auf dieses fragwürdige Unternehmen eingelassen hat: Die Zeitzeugen selbst vermuten, dass sich ihr Land aus Furcht vor einer Invasion habe kooperativ zeigen wollen. Sie deuten ihren Einsatz als Beitrag zur Landesverteidigung. Finanziert wurden die Missionen allerdings von Schweizer Industriellen, Bankiers und später von der Bundesregierung. Gonseths Dokumentation weist nach, dass es in diesen Kreisen Interesse an guten Geschäftsbeziehungen zu Deutschland, wenn nicht gar heimliche Bewunderung für das NS-Regime gegeben habe.

Aber warum hat man nicht mehr getan? „Sehen Sie! Mangelnde Sensibilität für die Mitmenschen!“, entfährt es Gerhard Weber im Interview, und sein Gesichtsausdruck schwankt dabei zwischen Zynismus und Leere. Die vom Regisseur an vielen Stellen eingesetzte dissonante Musik erscheint damit ganz überflüssig. Denn ihre Eindringlichkeit verdankt Gonseths Dokumentation den widersprüchlichen Selbstdeutungen dieser wackeren Zeitzeugen, die aus Staatsräson oder Überforderung 60 Jahre lang geschwiegen und dennoch sorgfältig alle Fotos und Dokumente von damals aufbewahrt haben.

JAN-HENDRIK WULF