DIETER BAUMANN über LAUFEN
: Hand an Hand ins Ziel

Blinde können problemlos in Weltrekordzeit einen Marathon gewinnen – wenn sie einen fitten Begleiter haben

Der blinde Läufer Henry Wanyoike aus Kenia stellte vor wenigen Tagen in Hamburg mit einer Zeit von 2:31:31 Stunden einen neuen, unglaublichen Weltrekord auf. 2:31:31 Stunden! Dabei lief Wanyoike eine Woche vor seinem Weltrekord in Hamburg noch den Marathon in London. Dort lief er eine Zeit von 2:32:51 Stunden. Binnen Wochenfrist zweimal Marathon, zweimal Weltrekord. Für Fachleute ist das geradezu undenkbar. Wanyoike belegte in Hamburg den 28. Platz des Männerfeldes, in London kam er als 81. ins Ziel. In keiner anderen Sportart, außer Laufen, können sich Athleten aus dem Behindertensport mit uns, den so genannten normalen Menschen, messen. Auch das macht die Faszination des Laufens und der Laufveranstaltungen aus.

Messen bedeutet nicht nur die Zeitnahme auf einer normierten Strecke, nein, ich meine das direkte Messen innerhalb eines Rennens, den direkten Vergleich. Egal ob es Wettkämpfe über 10 Kilometer sind oder ob es der Marathon ist, wir stehen alle gemeinsam an der Startlinie, wir laufen gemeinsam auf derselben Strecke, mit denselben Bedingungen, demselben Regen, der gleichen Hitze und dem gleichen Gegenwind. Und wir laufen durch dasselbe Ziel. Dies gilt für psychisch erkrankte Menschen genauso wie für diejenigen, die mit einer Prothese an den Start gehen, und auch die Rollstuhlfahrer gehören seit vielen Jahren zum Teilnehmerfeld (aus Sicherheitsgründen starten sie meist vorneweg).

Henry Wanyoike, der Blinde, wurde 28. in einem Feld von über 20.000 Läuferinnen und Läufer. Wanyoike läuft allein, aus eigener Kraft, und doch braucht er Unterstützung. Sehbehinderte oder blinde Menschen brauchen zum Laufen einen Begleiter. Kontakt zwischen beiden entsteht mithilfe eines kurzen Seiles. Sie laufen nebeneinander nicht Hand in Hand, aber doch Hand an Hand. Es ist kein Ziehen, es ist ein Lenken. Vorbei an jeder Unwegsamkeit, jedem erhöhten Schachtdeckel, jedem Bordstein, jedem Schlagloch. Auf vorauslaufende, langsamer werdende Läufer muss der blinde Läufer aufmerksam gemacht werden, bevor er sie überholt. In scharfen Kurven lenkt der Begleiter mit Handdruck.

Auf den ersten Kilometern ist das noch einfach, aber im Verlauf des Rennes wird es immer schwieriger. Deshalb ist es wichtig, dass der Begleiter fitter ist als der zu Führende. Er muss immer – das ganze Rennen lang – konzentriert bleiben, vorausschauend laufen. Eine Schwächephase darf er auf keinen Fall haben. Dieser Umstand erhöht ganz wesentlich den Druck und die Verantwortung für den Führungsläufer. Der Führungsläufer von Henry Wanyoike in Hamburg, Josef Kibunja, war ganz offensichtlich diesem Druck gewachsen, und ich tippe, der Mann kann die Marathondistanz weit unter 2:20 Stunden laufen – schneller also als der schnellste deutsche Läufer in Hamburg. Aber der Wettkampf ist nur die eine Sache, denn Wanyoike trainiert für eine Zeit von 2:31 Stunden nicht nur dreimal pro Woche. Sein Trainingspensum ist kaum vom Training der kenianischen Profis zu unterscheiden. Wie für den Wettkampf braucht er auch im Training Unterstützung, einen Begleitläufer. Sinnvollerweise sehr häufig, bei langen und harten Läufen, die Hilfe von Josef Kibunja, denn schließlich müssen sie sich bei extremen Belastungen kennen lernen.

Dieses Modell ist nicht nur im Leistungssport erfolgreich. Im Verein Skill’s beispielsweise betreuen einige Freizeitläufer unter Leitung von Jeremy Gaines und dem blinden Läufer und Sydney-Teilnehmer Klaus Meier Kinder der Hermann-Herzog-Schule in Frankfurt. Skill’s steht für Fähigkeiten und für „Sportklub für integratives und leistungsorientiertes Laufen“. Dieses Engagement soll eine bessere Bewältigung von Alltagsproblemen ermöglichen. Denn Kinder mit Sehbehinderungen von mehr als 70 Prozent erkennen Gefahrenquellen zu spät oder gar nicht. Der Sport kann ein Übungsfeld sein, sich für den Alltag fitter zu machen, und Laufen kann eine Lebensfreude erzeugen, die in manchen Fällen vielleicht sogar bis zum Hamburg-Marathon führen kann.

Fragen zum Blindenlauf? kolumne@taz.de Morgen: Philipp Maußhardt über KLATSCH