DAS WUNDER IM KELLER
: Zu Hause

DETLEF KUHLBRODT

Dass man kaum zwanzig Minuten entfernt vom Potsdamer Platz wohnt, hat auch Nachteile. Es verleitet dazu, zwischen den Filmen häufig nach Hause zu fahren, weil es am Potsdamer Platz so ungemütlich ist. Zu Hause sitzt man am Schreibtisch, isst Apfelkuchen, versinkt in trüben Gedanken. Letztlich ist man auch komplett bescheuert, denn der Bereich beim Arsenal, den die Prinzessinnengärten gestaltet haben, ist ja ganz okay.

Dann rafft man sich doch auf. Der nette Busfahrer wartet, juchhu, die Krise ist überwunden. Nicht ganz, denn man hat seinen Akkreditierungsausweis vergessen, steigt bei der nächsten Station aus, geht wieder nach Hause, liest wütend den ganzen 400-seitigen Berlinale-Katalog durch – Liebe, Sexualität und Krieg scheinen die Hauptthemen zu sein – guckt „Tagesschau“ und fährt ohne große Erwartungen dann noch einmal zum Potsdamer Platz.

Wo das Wunder geschieht. Ganz einfach: Man geht voller Sorgen ins Kino und kommt zwei Stunden später beglückt wieder raus. Oder genauer: Man steht im Keller, vor dem Arsenal. In einer Viertelstunde wird der Film „12 Sisters“ des kambodschanischen Regisseurs Ly Bun Yim gezeigt. Das Publikum ist cineastisch. Filmfreunde, Nerds, wenig Zufallszuschauer; einige hat man schon mal gesehen, ohne zu wissen, wie sie heißen; man ist sich nur sicher, dass sie richtig viel Ahnung haben. Denn das Arsenal ist das Kino, wo die coolen Filme laufen. Man fühlt sich aufgehoben im Gemurmel der Leute vor der Vorstellung.

Vor mir steht ein Äthiopier, dem gar nicht klar war, dass kein Wettbewerbsfilm kommt, sondern dass hier ein Schatz präsentiert wird, eine totale Rarität, einer der wenigen erhaltenen Filme des Goldenen Zeitalters des kambodschanischen Kinos. Die einzige, in Thai synchronisierte Kopie wurde erst vor drei Wochen gefunden; das Filmmaterial ist äußerst fragil. Weil es der Kopie nicht guttut, abgespielt zu werden, weil das grelle Licht, dass durch das Filmmaterial scheint, damit man den Film sehen kann, den inneren Zerstörungsprozess befeuert, wird der 44 Jahre alte Film „12 Sisters“ nur ein einziges Mal auf der Berlinale gezeigt.

Ly Bun Yim steht auf der Bühne und spricht einführende Worte. Er trägt einen Trenchcoat, den Kragen hochgeschlagen, und einen eleganten Hut. Die, die Khmer verstehen, lachen ab und an. Der Film erzählt ein Märchen – zwölf schöne Schwestern sind nur knapp einer garstigen Menschenfresserin entronnen, gelangen an den Hof des Königs, der sie alle auf einmal heiratet. In der Gestalt einer attraktiven Frau kommt auch die Hexe an den Hof, bezaubert den König und überzeugt ihn, dass es sich bei den zwölf Schwestern um Hexen handelt.

Den Schwestern werden die Augen ausgestochen, sie werden in eine Höhle verbannt, in der sie nur überleben können, indem sie ihre eigenen Kinder verspeisen. Bis auf eins. Der farbenprächtige, unbekümmert eklektizistische Film zieht mich sofort in seinen Bann. Die Schauspieler sehen so schön aus, die Musik ist so super; die Special Effects verblüffen. Dass die Schauspieler oft selbst kommentierend sprechen, als wär’s ein Hörspiel, ist auch toll.

Man spürt die Zeit und ihr Vergehen, ganz anders als in sorgfältig restaurierten Filmen, wie etwa dem jazzigen Beatfilm „The Connection“ (1961) von Shirley Clarke, den ich ein paar Tage zuvor gesehen hatte. Nach dem Film gibt es langanhaltenden Applaus. Die Leute defilieren an Li Bun Yim vorbei, geben ihm die Hand und bedanken sich.

Auch der zweite kambodschanische Film, „The Snake Man“ von 1970, einer der erfolgreichsten asiatischen Filme der damaligen Zeit, ist wundervoll. Der Regisseur Tea Lim Koun war mit seiner Hauptdarstellerin Dy Saveth gekommen. Er widmete die Wiederaufführung den Schauspielern, die nicht überlebt haben.