„Die fruchtbarste Zeit“

VORTRAG Die deutsch-jüdische Kinderliteratur der Dreißigerjahre wird näher beleuchtet

■ 61, ist Professor an der Uni Bremen und arbeitet dort am Institut Deutsche Presseforschung.

taz: Herr Nagel, Sie sprechen heute über deutsch-jüdische Kinderliteratur, die zwischen 1933 und 1938 erschienen ist. Wie viel gibt es davon überhaupt?

Michael Nagel: Es gibt circa 250 Bücher, Broschüren, Zeitschriften und Schulbücher. Nach 1938 waren sogenannte jüdische Bücher verboten. Die Jahre davor waren paradoxerweise die fruchtbarste Zeit der deutsch-jüdischen Kinderliteratur.

Warum?

Die jüdischen Deutschen wurden ja nach 1933 sukzessive aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen. Deshalb mussten sie sich um ein eigenes Bildungssystem kümmern, auch um eine eigene Kinder- und Jugendliteratur. Das ist eine Art erzwungene jüdische Renaissance.

Welches Bild von Palästina wird in diesen Büchern vermittelt?

Im Rahmen der zunehmenden Ghettoisierung mussten den Kindern Alternativen aufgezeigt werden. Sie mussten einen Ort auf der Welt gezeigt bekommen, wo sie als Menschen akzeptiert waren. Das ist für den zionistisch ausgerichteten Teil des deutschen Judentums – das ist ab 1935 die Mehrheit – Palästina.

Wurde da ein Idealbild gezeichnet?

Palästina war zu jener Zeit ja voll von Konflikten. In den Büchern für die jüngeren Leser kommt das aber nicht vor, da stehen nur die schönen Seiten drin. Das sind unrealistische Bücher. Bei den Jugendbüchern sieht das anders aus: Da wird auch von den Konflikten mit den Arabern oder der knochenharten Arbeit in der Landwirtschaft berichtet. Die Jugendlichen sollten sich, so die Vorgabe aus Palästina, keine zu rosigen Vorstellungen machen.

Sollten die Kinder für den zionistischen Gedanken gewonnen werden?

Ansatzweise schon, aber sie sollten nicht ideologisch „geimpft“ werden. INTERVIEW: JAN ZIER

19.30 Uhr, Villa Ichon