Jukebox

Joni Mitchells Gesellschaftspanorama

Als Joni Mitchell vor dreißig Jahren den Menschen „The Hissing of Summer Lawns“ schenkte, stieß die Platte bei vielen auf Unverständnis – zu weit hatte sie sich mit dieser Platte von dem introspektiven Singer-Songwritertum entfernt, mit dem sie bekannt geworden war. Folk war damals eben – neben dem prätentiösen Art-Rock – die übliche Darreichungsform „ernsthafter“ weißer Popmusik. Der Unwillen ihres Publikums mag darin begründet gewesen sein, dass Joni Mitchell ihrer Zeit weit voraus war. Sie interessierte sich stärker für Rhythmen und Strukturen als für Melodien. Zehn und mehr Jahre bevor sich Peter Gabriel, Sting und andere Schnarchnasen von so genannter Weltmusik inspirieren ließen, unterlegte sie einen ganzen Song – The Jungle Line – mit burundischen Kriegstrommeln. Und obwohl sie sich von einer songgestützten Bekenntnislyrik abwendet, findet sich auf dem ambitionierten Gesamtkunstwerk – auch das Cover-Gemälde stammt von Mitchell – reichlich Berührendes. Allerdings in einem anderen Sinne, als der Albumtitel vermuten lässt: Hier wird kein Naturidyll besungen. Im Gegenteil. Kontext des Albums ist der städtische Raum, leitmotivisches Thema die Auflösung traditioneller Szenarien von Unterdrückung – für die in der materialistisch geprägten Gesellschaft allerdings schnell Ersatz geschaffen wird. Mitchell entwirft ein vielschichtiges Gesellschaftspanorama, frei von moralisierenden Bewertungen. Jazz und Pop als Begrifflichkeiten können hässlich klingen, vor allem, wenn sie mit einem Bindestrich verbunden sind und dazu dienen, Songs in Schubladen zu stecken. Dass man „The Hissing of Summer Lawns“ als Jazz-Pop bezeichnen würde, wenn eine solche Kategorisierung verlangt würde, sollte trotzdem niemand abschrecken. Denn jeden Frühling, wenn diese komplexe und warme Platte einen aufs Neue anstrahlt, klingt sie noch besser als im letzten Jahr. STEPHANIE GRIMM