Der Osten bringt neuen Schwung

Weitgehend positive Bilanz der Osterweiterung in Berlin: Die Wirtschaft profitiert, nur wenige Arbeitsplätze gingen verloren, und auch der befürchtete Ansturm von Billiglöhnern blieb aus

VON UWE RADA

Für Beata G. war der 1. Mai 2004 kein gutes Datum. Kaum war Polen der Europäischen Union beigetreten, teilte ihr die Arbeitsagentur mit, ihre Arbeitserlaubnis als Altenpflegerin würde nicht verlängert. Zur Begründung hieß es, Beata G. könne sich als polnische Staatsbürgerin nun in Deutschland selbstständig machen. Beata G. hat es getan: Nun ist sie keine festangestellte Altenpflegerin mehr, sondern eine Selbstständige und damit eine so genannte Billiglohnkonkurrenz für ihre deutschen KollegInnen. Verdrängungswettbewerb made by Arbeitsagentur. Auch das gehört zur Berliner Bilanz nach einem Jahr Osterweiterung der Europäischen Union.

Blickt man dieser Tage auf die Meldungen über Billiglöhne in niedersächsischen Schlachthöfen oder über brandenburgische Sammelunterkünfte für scheinselbstständige Fliesenleger, mag man erstaunt sein, dass gerade Berlin nicht im Zentrum des Lohndumpings von Arbeitskräften aus den neuen EU-Ländern steht. „Die befürchtete Welle der Billiglöhner ist nicht gekommen“, sagt der Präsident der Handwerkskammer, Stephan Schwarz.

Ähnlich sieht dies Berlins Wirtschaftssenator Harald Wolf. Als Grund vermutet Wolf, dass schon vor der Osterweiterung viele Arbeitskräfte aus Polen illegal in der Stadt gearbeitet hätten. Nun werde lediglich legalisiert, was vorher als Schwarzarbeit in die Statistik einging. Insgesamt sei die Stimmung in Berlin eher gelassen. Auch von Unternehmensverlagerungen ins osteuropäische Ausland ist Berlin weitgehend verschont geblieben. Der Grund hier: Berlin hat seit der Wende rund 250.000 Arbeitsplätze in der Industrie verloren. Allzu viel arbeitsintensive Produktion konnte also gar nicht mehr in Billiglohnländer exportiert werden.

Überwiegend von schlechten Nachrichten verschont, fällt die Bilanz zur Osterweiterung weitgehend positiv aus. „Fast die Hälfte der Unternehmen, die vor der EU-Erweiterung noch nicht in Mittel- und Osteuropa tätig waren, haben jetzt Geschäftsbeziehungen dorthin“, sagt Senator Wolf. 70 Prozent hätten Geschäftsbeziehungen nach Osteuropa, 20 Prozent mehr als der Bundesdurchschnitt.

Dies wirkt sich vor allem auf die Exportzahlen aus. Schon im ersten Halbjahr 2004 ist der Export von Berliner Unternehmen um 23 Prozent gestiegen. Zwar ist die Ausgangsposition deutlich niedriger als etwa in Nordrhein-Westfalen oder Hamburg und Stuttgart. In diesem Anstieg zeigt sich aber auch, dass die Osterweiterung die einzige Chance für die hiesige Wirtschaft ist.

Ganz entgegen dem Bundestrend setzen sich Experten deshalb auch für die Aufhebung der Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit ein. Nach dem Berliner Wirtschaftssenator, der sich für eine Öffnung der Arbeitsmärkte bei gleichzeitiger Einführung von Mindestlöhnen ausspricht, ist auch bei den Gewerkschaften eine Debatte in Gang gekommen. „Auf der Funktionärsebene ist vielen klar, dass eine weitere Verlängerung der Übergangsfristen nicht sinnvoll ist. Nur an der Basis gibt es da noch erhebliche Widerstände“, sagte der Chef des DGB Berlin-Brandenburg, Dieter Scholz, am Rande einer Tagung der DGB-Jugend im Brandenburgischen Flecken Zechlin. Ähnlich wie Senator Wolf würde Scholz den Verzicht auf die Verlängerung der Übergangsfristen aber mit der Durchsetzung von Mindestlöhnen verknüpfen.

Zur Erinnerung: In einem Jahr muss die Bundesregierung entscheiden, ob sie die Aussetzung der Arbeitsnehmerfreizügigkeit, also des Rechtes von Arbeitskräften aus den Beitrittsländern, in Deutschland legal zu arbeiten, für weitere drei Jahre aussetzt. Zahlreiche Kommunalpolitiker und auch Wirtschaftsminister der neuen Bundesländer haben sich gegen eine Verlängerung der Übergangsfristen ausgesprochen. Sie befürchten, gut ausgebildete Arbeitskräfte würden dann weiter nach Großbritannien und in andere EU-Länder ziehen, in denen es solche Beschränkungen nicht gibt.

Nicht nur wirtschaftlich hat Berlin von der Osterweiterung profitiert, sondern auch kulturell. Nirgendwo ist die Kultur der Beitrittsländer so präsent wie in dieser Stadt. Das haben inzwischen auch die Studierenden entdeckt. Mit 1.500 Studenten sind die Polen die größte Ausländergruppe. Wie Beata G. hoffen sie nun, dass sie demnächst legal in Deutschland arbeiten dürfen.