ECHTE BALLINER
: Die Zeit rast

Ins Wasser geht das Proletariat nie

„Ick hau dir in die Fresse, du dumme Fotze.“ Ein martialisches Brüllen dringt in mein Schlafzimmer und weckt mich. Es dauert etwas, bis mein schlaftrunkenes Hirn sich zu fragen beginnt, wer verdammt noch mal schon am frühen Morgen solche hier im Kiez doch eher selten zu hörenden politisch unkorrekten Worte ausstößt.

Bis ich mich aus dem Bett gequält habe und zum Fenster gewankt bin, ist niemand mehr zu sehen. Die Straße liegt friedlich da, aber der Schein trügt, denn ich habe mich nicht verhört.

Gut, ich habe da so einen Verdacht. Im Nebenhaus wohnt nämlich das Proletariat. Es ist schon lange arbeitslos. Manchmal meldet es sich noch zu Wort. Dann aber eher unqualifiziert. Und dann auch in der Regel nur, wenn es sich mit seinem Hund unterhält. Es ist stark tätowiert, trägt einen Cowboyhut und Brille. Und es ist ein echter „Balliner“. Die sind hier im Gräfekiez eher selten, aber wenn man welche sehen will, bietet das Prinzenbad eine gute Gelegenheit, und irgendwie ist es auch der richtige Ort, denn man muss vier Euro Eintritt zahlen, um sie besichtigen zu können. Ins Wasser gehen sie nie, jedenfalls habe ich sie dort noch nie gesichtet. Eines der seltenen Exemplare dieser Spezies hat einen hervorragend geformten Eierkopf, trägt Glatze, einen Schnurrbart, reichlich Tattoos – Adler, Drachen und Schlangen –, und aus der knappen Badehose ragen etwas zu dünn geratene Beinchen. Wie bei den anderen weist sein Körper eine tiefe Bräunung auf. Um ihre Hälse hängen fette, glänzende Goldketten.

Die kleine Gruppe sitzt immer auf der Terrasse und aalt und ölt sich. Und als ich an ihnen vorbeischlendere, sagt einer gerade: „Wie die Zeit rast, wa?“ Auch eine üppige blonde Frau ist dabei. Früher waren es zwei. Eine fehlt. Sie war noch dunkler als die anderen, fast so dunkel wie eine Kastanie.

KLAUS BITTERMANN