NOTIZBUCH
: Lesungslänge

Üblich sind 75 Minuten. Und es stimmt ja auch: die Aufmerksamkeitsspanne! Die ist oft gar nicht so hoch. Begrüßung, kurze Einführung, erster Leseabschnitt, erste Fragerunde, zweiter Leseabschnitt, zweite Fragerunde – viel mehr als die berühmte „gute Stunde“ kann man als Zuschauer oft gar nicht aufnehmen. Und man muss bei 75 Minuten auch nicht gleich von Häppchenkultur sprechen. Häppchen sind kürzer.

Aber was macht man, wenn man ein 1.700-Seiten-Werk präsentiert, bei dem der Verdacht von Weltliteratur nicht von der Hand zu weisen ist? Der Rowohlt-Verlag präsentierte diese Woche den 1.700-Seiten-Roman „Parallelgeschichten“ des Nobelpreiskandidaten Péter Nádas (Besprechung folgt) in Berlin und brachte es auf eine Veranstaltungslänge von zweieinhalb Stunden. Erst las Ulrich Matthes ein ganzes Kapitel: eine dreiviertel Stunde. Dann sprach der Kritiker Andreas Isenschmid mit dem Autor. Nádas antwortete bei jeder zweiten Frage erst einmal mit nein. Isenschmid formulierte die Frage etwas um und brachte Nádas immer wieder freundlich nachbohrend dazu, genau zu antworten. Noch eine dreiviertel Stunde. Dann las Ulrich Matthes ein weiteres Kapitel: gute halbe Stunde. Alles zusammen mit der Begrüßung von Rowohlt-Chef Alexander Fest: das Doppelte der normalen Zeit.

Nun, man will nicht behaupten, dass man seinen Hintern nicht ein einziges Mal gespürt hätte. Aber das alles war schon gelungen. Was nicht nur an der Qualität des Textes lag, sondern auch daran, dass hier der Moderator etwas herauskriegen wollte – und der Autor sich bemühte, redlich Auskunft zu geben.

Offenbar gibt es also nicht nur beim Laufen, sondern auch bei der Aufmerksamkeitsspanne eine zweite Luft. Ohne jetzt gleich zu einem neuen Anti-Entertainment-Trend bei Lesungen aufrufen zu wollen: Wenn sie von ihrem Autor überzeugt sind, könnten das Verlage ruhig mal wieder austesten. Aber gut gemacht muss es dann schon sein! DRK