Die Polen-Paranoia greift um sich

Deutsche Jobs werden ins Ausland verlagert, und seit der EU-Osterweiterung kommen auch noch tausende Polen auf Arbeitssuche nach Deutschland – diese Klischees beherrschen derzeit die öffentliche Diskussion. Aber treffen sie auch zu? Sieben Fragen samt Antworten.

Wie viele Jobs hat die Globalisierung in Deutschland schon vernichtet?

Keinen, jedenfalls nicht im Saldo. Zwar leiden einige deutsche Branchen heftig unter der weltweiten Konkurrenz: Werften gibt es kaum noch in Deutschland, die Handyproduktion ist defizitär, und die Nordseekrabben werden in Marokko gepult. Aber insgesamt profitieren die deutschen Arbeitnehmer von der Globalisierung. „Wir“ sind nicht nur Papst, sondern auch „Exportweltmeister“. Es werden sehr viel mehr Waren aus- als eingeführt. 2004 betrug der Außenhandelsüberschuss 156 Milliarden Euro. Da ein Arbeitsplatz in der Produktion etwa 160.000 Euro Umsatz im Jahr entspricht, ergibt sich als Fazit: Das Exportplus sichert 970.000 Arbeitsplätze in Deutschland.

Dagegenrechnen muss man allerdings das Minus von 32 Milliarden Euro bei den Dienstleistungen. Hauptgrund für dieses Defizit: die vielen Auslandsreisen der Deutschen. Da ein Dienstleistungsjob etwa 82.000 Euro an jährlichem Umsatz erwirtschaftet, entspricht das Minus rund 40.000 Arbeitsplätzen, die hier nicht entstehen. Zusammengerechnet ergibt sich jedoch: 930.000 deutsche Arbeitsplätze existieren nur, weil das Ausland seit Jahrzehnten klaglos hinnimmt, dass die Deutschen den Weltmarkt mit ihren Waren überschwemmen. UH

Werden tatsächlich viele deutsche Arbeitsplätze ins Ausland verlagert – oder ist das nur Panikmache?

Die Nachrichten sind widersprüchlich. Zwei Beispiele: Inzwischen sind 87 Prozent der deutschen Unternehmen dazu übergangen, ihre IT-Dienstleistungen aus dem eigenen Haus auszulagern. Doch davon profitieren nicht etwa die billigen Programmierer in Indien. „94 Prozent der deutschen Unternehmen setzen voll auf Anbieter aus Deutschland“, stellt das Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung fest.

Anders sieht es bei der Produktion aus: Inzwischen hat jeder zweite mittelständische Betrieb in Deutschland eine Betriebsstelle in Osteuropa, das ergab jüngst eine Umfrage unter 3.000 Firmen. 18 Prozent der Firmen haben dadurch ihre Lohnkosten schon senken können, weitere 48 Prozent erwarten dies in nächster Zeit. Das klingt bedrohlich. Doch die Billigjobs im Ausland sorgen dafür, dass sich die Firmen gut bezahlte Mitarbeiter im Inland leisten können – weil sie im Saldo weltweit konkurrenzfähig bleiben bei den Preisen. UH

Sollten Löhne in Deutschland gesenkt werden, um Jobverlagerungen ins Ausland zu vermeiden?

Nur bei hoher Gegenleistung. Zwar ist der Trend unübersehbar: Neue Jobs entstehen seit Jahren vor allem in Osteuropa. VW baut im slowakischen Bratislava seit vier Jahren Polo, Seat und Geländewagen; die Arbeiter verdienen durchschnittlich 900 Euro im Monat. Und Opel produziert seit 1998 im polnischen Gliwice für ein Viertel der deutschen Lohnkosten. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass auch in Deutschland die Löhne sinken müssen. Denn dieser Wettkampf wäre auf Dauer nicht zu gewinnen, weil es immer Standorte gab und geben wird, an denen sich billiger produzieren ließe als in Deutschland. Zudem: Obwohl sich im Ausland so billig produzieren lässt, wurde auch in deutsche Fabriken investiert: 750 Millionen Euro wurden in den vergangenen Jahren in das Opel-Werk Rüsselsheim gesteckt. Einen solchen Standort abrupt zu schließen, um in Polen eine neue Fabrik zu bauen, würde sich auch bei geringeren Lohnkosten kurzfristig nicht rechnen. Zumal auch in Osteuropa die Tarife steigen werden. Insofern relativiert sich die Bedrohung.

Die Lage wird jedoch ernst, wenn durch Konjunktureinbrüche oder eine falsche Produktpalette Überkapazitäten entstehen. Dann werden Standorte durch die Firmenleitung gegeneinander ausgespielt. Ob VW, Mercedes oder Opel – die Betriebsräte mussten auf übertarifliche Leistungen verzichten und Arbeitszeitverlängerungen ohne Lohnausgleich hinnehmen. Das macht dann Sinn, wenn als Gegenleistung eine langfristige Arbeitsplatzgarantie ausgehandelt wird. STEP

Nehmen die Osteuropäer den Deutschen die Arbeit weg?

Mit der Angst vor der Billigkonkurrenz aus den mittel- und osteuropäischen EU-Beitrittsländern „wird viel Panikmache betrieben“, sagt Herbert Brücker, Migrationsexperte beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Brücker hat mit Kollegen hochgerechnet, mit wie viel Arbeitskräften aus den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern die hiesige Bevölkerung rechnen muss. Das Ergebnis fällt für die Mehrheit in Deutschland beruhigend aus: Laut DIW ziehen in naher Zukunft pro Jahr nur etwa 22.500 Jobber aus diesen Ländern neu nach Deutschland. Bisher leben hier 270.000 Erwerbstätige aus Beitrittstaaten mit ihren Angehörigen.

Kommt die Freizügigkeit im Jahre 2011, wird sich der Zustrom an Jobsuchenden zwar verstärken und kurzfristig auf rund 100.000 pro Jahr anschwellen, dann jedoch wieder abebben. Insgesamt rechnen die DIW-Forscher bis zum Jahre 2030 mit einer Million Erwerbstätigen zusätzlich aus den Beitrittsländern, inklusive Bulgarien und Rumänien. Da viele dieser Migranten aber in prosperierende Regionen in Deutschland zuwandern, könnte die Arbeitslosigkeit durch die neue Jobkonkurrenz maximal um 180.000 im Jahre 2030 zunehmen, so die DIW-Zahlen. Einzelne Berufsgruppen sind allerdings besonders betroffen. BD

Wer verliert durch die Zuwanderung von Erwerbstätigen?

„Durch die Zuwanderung von Arbeitskräften aus Polen und den anderen Beitrittsländern sind in Deutschland besonders ArbeitnehmerInnen in niedriger qualifizierten Tätigkeiten betroffen“, sagt Brücker. In der Fleischwirtschaft etwa sorgt der Zustrom von ZerlegerInnen aus Polen derzeit für Furore. Nach Schätzungen der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) wurden in den vergangenen zwölf Monaten rund 26.000 Mitarbeiter in der Fleischwirtschaft durch billigere mittel- und osteuropäische Arbeitskräfte ersetzt. Dabei handelt es sich allerdings um Hochrechnungen auf Basis von Informationen aus einzelnen Betrieben. Eine verbriefte Zahl ist das nicht.

Auch deutsche Handwerker registrieren besorgt die vielen Neuanmeldungen von Selbstständigen. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) zählte im Jahre 2004 bundesweit 4.175 Neuanmeldungen von BürgerInnen aus den mittel- und osteuropäischen EU-Ländern in den zulassungsfreien Gewerken, etwa bei den Fliesenlegern. Die Zahl relativiert sich allerdings, wenn man sich die Gesamtzahl der Neuanmeldungen in diesen Gewerben anschaut, nämlich rund 34.500. Danach stellen die neuen Selbstständigen aus dem Osten nur zwölf Prozent dieser Neugründungen. Das Hauptproblem ist also immer noch die Konkurrenz aus dem Inland, nicht aus dem Ausland.

Obwohl Medienberichte gern den Lohnwettbewerb zwischen Polen und Deutschen betonen, sind die länger hier lebenden MigrantInnen, beispielsweise die Türken, von dieser Konkurrenz besonders betroffen. Denn sie ackern vor allem in niedrig qualifizierten Berufsfeldern, in denen deutsche Sprachkenntnisse nicht ausschlaggebend sind. Genau in diese Bereiche drängen die Zuwanderer aus Mittel- und Osteuropa und sind dabei oft qualifizierter, denn die meisten haben einen Berufsabschluss. BD

Wird Deutschland zum europäischen Niedriglohnland?

In Deutschland geraten die Erwerbseinkommen unter Druck, aber weniger durch die Globalisierung als vielmehr durch die Jobkonkurrenz im Inland. Jeder vierte Erwerbstätige ackert inzwischen zu einem Bruttostundenlohn von weniger als 8,60 Euro, dieser Anteil ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Im Einzelhandel bekommen Auffüllerinnen mit einer 20-Stunden-Woche teilweise nur einen Stundenlohn von fünf Euro. Die Ausbreitung von Minijobs, die zunehmende Tariflosigkeit, die steigende Zahl von schlecht verdienenden „Selbstständigen aus Not“ und die niedrigen Einkommen im Osten Deutschlands haben zur kargen Verdienststatistik beigetragen.

In Großbritannien liegt der gesetzliche Mindestlohn umgerechnet derzeit bei sieben Euro – das gälte den hiesigen Arbeitgebern inzwischen schon als viel zu hoch für einen staatlich garantierten Mindestlohn. BD

Werden die Deutschen jetzt ihrerseits zu Jobnomaden und wandern ins westliche Ausland ab?

Die Zahl der deutschen Jobmigranten im Ausland steigt. 45.000 Deutsche ackern allein in Österreich, vor sieben Jahren waren es nur 17.000. Auch die Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV) in Bonn vermittelt zunehmend Deutsche ins Ausland, 9.111 ArbeitnehmerInnen waren es im Jahre 2004, Tendenz steigend, erklärt ZAV-Sprecherin Sabine Seidler. Die meisten der deutschen Jobmigranten gehen in europäische Länder. Ganz oben auf der Liste stehen Österreich und die Schweiz, gefolgt von den Niederlanden, Großbritannien, Irland und Norwegen. Deutsche ackern als Gerüstbauer in der Schweiz, bedienen Restaurantgäste in Großbritannien und pflegen Kranke in Norwegen.

Die Schweizer beklagen sich inzwischen über die Lohndrückerei durch deutsche „Billigarbeiter“. So erhielten deutsche Trockenbauer auf einer Baustelle im Kanton Zürich nur zehn Euro die Stunde, während der tarifliche Lohn in der Schweiz für diese Tätigkeit fast doppelt so hoch liegt. Das Argument der Schweizer Gewerkschafter: Deutsche könnten mit diesem Entgelt in ihrem Heimatland bei den dort niedrigen Preisen gut leben, die Schweizer allerdings seien auf höhere Löhne angewiesen, weil die Lebenshaltungskosten in der Schweiz sehr viel höher lägen. BD

Welche Länder sind besonders stark von der Globalisierung betroffen?

Die größten Verlierer sind nicht Länder, sondern einzelne Bevölkerungsgruppen. Dazu gehören nicht nur die Niedrigqualifizierten in den Hochlohnländern, sondern auch die Billigarbeiter in den ärmsten, am wenigsten entwickelten Ländern. Beispiel Bangladesch: Früher konnte es Kleidung zu Vorzugsbedingungen billig in die EU exportieren. Aber seit für alle Länder die gleichen WTO-Regeln gelten, kann das Land nicht mehr mit den großen und billigen Schwellenländern China und Indien mithalten. Etwa 40 Prozent der Textilarbeiter in Bangladesch verloren plötzlich ihren Job. KK