Süß, sauer, salzig

Die aromatische Amalfi-Zitrone gilt als das Nonplusultra der Zitrusfrüchte. Gerade deshalb ist ihre Existenz bedroht

von TILL EHRLICH

Das Land, wo angeblich die besten Zitronen blühen, liegt am Tyrrhenischen Meer in Kampanien, eine Autostunde südlich von Neapel. Dort liegt der heilige Gral der Zitronen, die Heimat der Amalfi-Zitrone. Ein Mythos aus Bella Italia. Gourmets und Kochkünstler schwärmen von ihr.

Amalfi war jahrhundertelang das Zentrum der amalfitanischen Küste. Eine Seerepublik, die ab dem neunten Jahrhundert mit ihrer Flotte den Mittelmeerraum beherrschte. Die Amalfitaner brauchten auf ihren Seefahrten ein Mittel gegen Skorbut. Die vitaminstarke Zitrone war da sehr willkommen. Sie stärkt das Immunsystem und verfügt über zahlreiche therapeutische Eigenschaften. Die Seefahrer ersannen daher ein kunstvolles Terrassensystem, um auf ihrer felsigen Steilküste Zitronenbäume kultivieren zu können. In den hängenden Gärten der etwa vierzig Kilometer langen Zitronenküste werden so seit tausend Jahren Zitronen angebaut. Wie Schwalbennester kleben die Zitronenterrassen an den Felsen über dem Meer.

Lange Zeit wurden die Zitronen dieser Region wie eine Kostbarkeit gehandelt. Doch durch die Globalisierung fallen die Preise, die kostenintensive Arbeit in den hängenden Gärten ist nicht mehr wirtschaftlich. Viele Terrassen werden aufgelassen und verfallen. Eine Folge ist die Erosion der Berghänge. Eine tausendjährige Kulturlandschaft ist bedroht.

Doch nicht alle Zitronenbauern verharren in Lethargie. Luigi Aceto ist ein Qualitätspionier und Vorbild für viele Kleinbauern, die an der Amalfiküste um ihr wirtschaftliches Überleben kämpfen. Der 70-jährige Signore ist nicht nur kampfbereit und listig, er hat einen Weg aus der ruinösen Spirale gefunden. Er produziert ökologisch. Und er setzt auf Spitzenqualität. So kann er für seine Zitronen höhere Preise verlangen.

Die Terrassen liegen oberhalb von Amalfi. Es ist ein enges, felsiges Seitental, das rasch vom Meer ansteigt, hoch zum Küstengebirge. Ein schroffer Canyon mit grauen Felswänden. Daran kleben Steinterrassen. Viele sind dem Zerfall preisgegeben, verschwinden in Wildnis und Gestrüpp. Doch dort, wo noch Zitronen wachsen, leuchten gelbe Punkte.

Jetzt ist die Zeit der Blüte. „Wenn man aufmerksam ist, kann man sehen, wie sich die Blüten an den Zitronenbäumen öffnen“, sagt Luigi Aceto. Sie sehen zerbrechlich aus, die weißen Blüten. Wie kleine Sterne aus Porzellan. „Es berührt mich immer noch, hier oben zu sein, im April und Mai, während der großen Blüte“, sagt er.

Dort, wo die Zitronen blühen, hängen oft auch schon Früchte am gleichen Baum. Denn der Zitronenbaum ist sensibel. Er reagiert unmittelbar auf seine äußere Umwelt. Herrscht trockenes und warmes Wetter, gefolgt von einem kurzen Regen, bringt er stets neue Blüten hervor. Deshalb findet man an vielen Bäumen den ganzen Vegetationszyklus eines Jahres auf einmal: zarte Blüten, kleine grasgrüne und große, reife Zitronen.

Die Hauptblüte ist jetzt. Sie währt bis in den Mai. Nach mehreren Monaten der Reife bringt sie die besten und saftigsten Zitronen hervor. Die Bauern nennen sie nach dieser ersten großen Blüte des Jahres primo fiore. Im heißen Juli sind die Zitronenbäume dann der Trockenheit ausgesetzt, vier Wochen lang müssen sie dursten. Im August werden sie intensiv bewässert, was die zweite große Blüte im Herbst auslöst. Die Frucht dieser herbstlichen Blüte wird verdelli genannt, die Grünliche. Ihre Farbe ist grüner als die der Frühlingszitronen. Jene Zitronen, die aus späteren Blüten entstehen, brauchen mehr Zuwendung und Zeit zur Reife. In den kühleren Monaten dauert die Entwicklung länger, der Aufwand ist höher.

Nach sechs Monaten können die Früchte geerntet werden. Luigi Aceto aber hat Geduld, gibt seinen Zitronen neun bis zehn Monate Zeit zur Reife. So können sich komplexere, dichtere Aromen bilden. Zudem herrscht auf seinen Terrassen ein besonderes Mikroklima. Der Wechsel aus Fallwinden von den Bergen und feuchten Meeresbrisen schafft in den hängenden Gärten ein Gegengewicht zur Intensität der Sonne. Ergebnis ist eine differenzierte und lange Reifeperiode, die zu besonderer Aromendichte führt: Amalfi-Zitronen duften intensiv, schmecken nicht vordergründig sauer, sondern fruchtig und frisch. Ihr Saft hat Säure, aber sie wirken weder bohrend oder spitz noch stahlig oder hart. Nicht Härte, sondern Sanftheit offeriert der Geschmack, dessen Erlebnis sich nicht allein über den Saft, sondern im Zusammenspiel von Fruchtfleisch und Schale erschließt. Dazu schneidet man eine dünne Scheibe von der Zitrone und isst sie mitsamt ihrer Schale. Erst so können sich auf der Zunge die ätherischen Düfte der Schale mit der kernig-herben Frische des Fruchtfleisches verbinden. Ein Geschmackserlebnis, das sich mit einer billigen Massenzitrone nicht nachvollziehen lässt. Denn das Weiß einer Amalfi-Zitrone schmeckt nicht bitter, sondern neutral.

Luigi Aceto schätzt die Zitrone pur: eine hauchdünne Scheibe, bestreut mit einem Hauch Meersalz. „Die Zitrone ist die Vollendung der Zitrusfrucht“, sagt er. Zu Recht. Denn ob Mandarine, Limette oder Bergamotte – die Zitrone bleibt auf ihre Art konkurrenzlos. Ihr inneres Spektrum ist weit, durchläuft die Grenzen von süß und sauer, bitter und salzig. Ob kross gebackenes Zitronenhuhn oder Fischfilet, ob Zitronensorbet oder sanfter Zitronenkuchen – die Zitrone ist in der Küche essenziell und universell einsetzbar.

Luigi Aceto ist ebenso rüstig wie rastlos. Er kämpft nicht nur für den Erhalt einer Kulturlandschaft, er kämpft mit Zitronen gegen Lethargie und Gleichgültigkeit, die seine Region seit Jahrzehnten zermürbt. Woher nimmt der die Kraft? „In meinen Adern“, sagt er, „fließt Zitronensaft.“

TILL EHRLICH, 40, lebt als freier Autor in Berlin