In der Kabine mit Jürgen R.

Statt einer Dauerpredigt: Das rote Reich an Rhein und Ruhr darf nicht untergehen. Durch welche Urszenen die Linken müssen, um am 22. Mai doch wieder die gute alte Tante Es-Peh-Deh zu wählen

VON MARTIN TEIGELER

Once upon a time in Northrhine-Westphalia – es war einmal ein Bundesland. Mit Bergwerken, Bauern und dem großen Bonmot-Erzähler aus Wuppertal. Die Kohle, die Überwindung des Rheinland-Westfalen-Dilemmas, der blaue, eher rote Himmel über der Ruhr – und alles verpackt in eine verschwurbelte, irgendwie soziale Dauerpredigt von Ministerpräsidenten-Impersonator Johannes Rau. Heute ist es modisch geworden, über den sozialdemokratischen Ex-Regierungschef und seine fast 20-jährige „Wir in NRW“-Ära zu spotten. Dabei hatte der Rauismus, die manchmal schwer erträgliche Menschenfischerei, der malmende Sound der Protestantismus, die „Narrative“, den Erzählstrang zusammengehalten für 39 Jahre SPD-Herrschaft.

Doch die Story ist aus. Am 22. Mai könnte das rote Reich an Rhein und Ruhr untergehen. Die Bastion im Westen gegen den süddeutschen Konservativismus, gegen die schwarze Unterseite der alten BRD steht vor dem Fall. Steinbrück ist nicht Rau. Beim Norddeutschen in der Staatskanzlei hören wir nur halb hin und verstehen – in Ermangelung einer originellen spannenden Erzählung – lediglich politisches Seemannsgarn. Und das „rot-grüne Projekt“? Das ist der politische Klingelton von gestern. Viele auf der politischen Linken können und wollen ihn nicht mehr hören. Der Lagerwahlkampf Rot-Grün gegen Schwarz-Gelb ödet sie an. Aber was sollen sie wählen?

Eine Typographie des Ex-Rau-und-nicht-Steinbrück-Wählers bot sich am Donnerstagabend in Krefeld. 400 Anhänger der neuen Linkspartei „Wahlalternative“ lauschten einem Auftritt des Außer-Nordrheinwestfälischen Oskar Lafontaine. Christliche Arbeitnehmer aus Aachen, dickbäuchige Gewerkschafter aus dem Ruhrgebiet und dünne, nervös-rauchende ÖTV-Veteraninnen aus dem Bergischen Land hörten sich die Wutrede des Springer-Kolumnisten gegen die herrschende Sozialdemokratie an. Manche klatschten begeistert, andere aßen gelangweilt Frikadellen, ein paar Trotzkisten verteilten Flugblätter. Die ernsthafte, schwer erträgliche Botschaft des Abends: Alles soll so bleiben, wie es war. Strukturwandel, Mauerfall, Globalisierung, Sozialabbau – alles durfte nicht sein, und muss wieder weg.

Heute präsentiert sich in Gelsenkirchen eine andere „Alternative“. Ausgerechnet die PDS diskutiert bei einem „Workshop“ über „linke Perspektiven zum Strukturwandel“. Die demokratischen Sozialisten als neue politische Heimat für die orientierungslose NRW-Linke? „Dass wir antreten, ist eine Verantwortung der Linken“, sagt der PDS-Landesvorsitzende Paul Schäfer. Man müsse den 40, 50 Prozent, die nicht mehr zur Wahl gingen, ein Angebot machen. Aber was ist das für ein Angebot? „Ich habe auch kein Rezept für den Westen“, sagt PDS-Bundeschef Lothar Bisky über die kümmerliche Westerweiterung der linken Protestpartei Ost.

Und so könnte sich am 22. Mai die Urszene des letzten linken Wählers abspielen. Ein Alptraum: Allein in der Wahlkabine mit Jürgen Rüttgers. Der letzte linke Wähler schwitzt. Er stammelt: „Rüttgersrheinischer Provinzialismus, Kinderstattinder, überlegene Katholen.“ Die Hand des letzten linken Wählers zuckt und ruckt jetzt nervös auf und ab. Da! Er macht sein Kreuz.