Geklaute Gefühle

„Augenblick mal“, das Theatertreffen für die Jugend, leuchtet die dunklen Ränder der Kindheit an. Künstlerisch hervorragend und dennoch ein Stiefkind der Kulturpolitik

Kindertheater – das klingt für viele wie Medizin, die man nur auf Rezept bekommt oder auf dringenden Rat eines Familientherapeuten. An Kunst denkt selten einer. Kindertheater gilt noch immer als Theater für Anfänger, nicht nur was die Zuschauer, sondern auch was die Macher betrifft. Dabei braucht man sich nur mal zwei, drei Aufführungen des noch bis Montag laufenden Kinder- und Jugendtheaterfestivals „Augenblick mal!“ anzusehen, das seit 1991 alle zwei Jahre vom Kinder- und Jugendtheaterzentrum der Bundesrepublik Deutschland, dem Grips und dem Carrousel Theater veranstaltet wird, um das klare Bild einer Kunst- und Theaterform auf der Höhe der Zeit zu bekommen.

Da gibt es Tanztheater für Kinder ab fünf, wie Helene Krumbügels mit der Leipziger Kompanie „ciacconna clox“ erarbeitete Choreografie „Die zertanzten Schuhe“. Es gibt eine Performance über die Zeit von der Hamburgerin Sibylle Peters, die mit spitzfindigem Humor zwischen Commonsense, Wissenschaft und Philosophie nicht nur Siebenjährige, sondern auch volljährige Zuschauer bannt und hinreißt. Oder ein Gastspiel des „moks“ vom Bremer Theater, ein hochspannendes Kammerspiel von Klaus Schumacher: In „Playback Life“ geht es um drei Jugendliche, denen ihre eigenen Gefühle nicht mehr ausreichen, weil sie Gefühle nur noch aus dem Kino kennen. Sie denken sich ein extremes Spiel aus, das richtige Leben in einen Film zu verwandeln. Ein ahnungsloses Opfer wird ausgewählt – nur dass die Geschichte dann ganz anders verläuft, als es im Drehbuch steht. Schumachers Inszenierung spielt in einem Bühnenbild (Karin Plötzky), in dem man sich problemlos auch eine Botho-Strauß-Inszenierung vorstellen könnte. Das Videodesign von Jürgen Salzmann verarbeitet MTV-reif berühmte Hollywoodfilme. In Sekundenschnelle hat man ein Dutzend davon gesehen, vom „Herr der Ringe“ bis „High Noon“. Dazwischen werden aus dem Nachbarraum Bilder einer Überwachungskamera eingespielt.

Ein Highlight ist auch die Adaption von Stephen Kings Novelle „Der Musterschüler“ (Theater Triebwerk, Kampnagel Hamburg und Theaterwerkstatt Hannover). In Martina von Boxens Inszenierung wird das Thema Nazi-Gräuel einmal anders bearbeitet. Ein Gymnasiast macht einen ehemaligen KZ-Vorsteher ausfindig. Dessen grauenerregende Geschichten wirken nicht etwa läuternd auf den Jungen, sondern das Böse dringt wie ein Virus immer tiefer in ein. Dabei gelingt der Aufführung eine Leichtigkeit und Komik, in der es immer wieder atemberaubende Abstürze ins Entsetzen gibt.

Obwohl das Festival längst als renommiert gilt, war bis Anfang März nicht sicher, ob es überhaupt stattfinden würde – denn Berlin gab die Mittel erst in letzter Minute frei. Dabei ist es symptomatisch, dass es unter den Grußwortautoren des Begleitbuchs keinen einzigen Kulturpolitiker gibt. Schirmherrin ist, mit Berlins Regierendem Bürgermeister, die Bundesministerin für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, Renate Schmidt, aus deren Etat auch ein Teil der Finanzierung stammt. Kinder- und Jugendtheater gehört jedoch dringend auch in die Zuständigkeit der Kulturpolitik.

Einer, der im Erwachsenen- wie Jugendtheater gleichzeitig erfolgreich arbeitet, ist der Regisseur Sebastian Nübling, dessen Inszenierung von Simon Stephens Stück „Reiher“ mit jugendlichen Laien und erwachsenen Profis ein weiterer Höhepunkt des Festivals war: eine atemberaubende Studie über Jugend und Gewalt, Hoffnungslosigkeit und Liebe an den dunklen Rändern des Neoliberalismus.

ESTHER SLEVOGT

„Augenblick mal“ geht noch bis Montag; www.augenblickmal.de