Gefühlte Nachbarschaft

Vor einem Jahr feierten vor allem junge Polen ihren Beitritt zur EU. Aber vor einer europäischen Zukunft liegt eine schreckliche Vergangenheit, liegt eine problematische Nachbarschaft, liegt Deutschland. Sechs deutsch-polnische Begegnungen in Europa

VON MIA RABEN

Unsere Opas

Tomek hat Humor. Seine Witze, beiläufig ins Redaktionsbüro gerufen, gehen so: „Raus, raus! Schnell, schnell!“ und „Ihren Ausweis bitte!“ Manchmal sagt er nur kurz „Jawohl!“ oder auch: „Waffen-SS!“ Tomek kann auch ernst sein. Wie jetzt. Er steht hoch über der Stadt am Fenster im 26. Stock und sagt: „Du weißt, warum Warschau so hässlich ist?“ Die Schuldfrage lauert an jeder Straßenecke. „Ja, das weiß ich.“ „Warum denn?“ „Weil die Deutschen es zerstört haben.“ Tomek: „Siehst du!“ „Sehe ich was?“ „Ihr Deutschen habt Schuld“, sagt er. „Ich aber nicht.“ „Aber dein Opa.“ Stille … und weiter. „Auf welcher Seite stehst du?“, fragt er. „Seite von was?“ „Der Oder. Stehst du auf der rechten oder der linken Seite der Oder?“ Tomek ist 27 Jahre alt. Seine Familie war im KZ Stutthof. Später kamen die Vertreibungen. „Wenn du mich so fragst, dann stehe ich in der Mitte.“ „Das geht nicht“, sagt er bestimmt und geht. Mit zwei Kaffee kommt er wieder: „Kommst du heute Abend auch auf die Party?“ Natürlich sehr gern.

In der gesellig verrauchten Runde schenkt Tomek allen immer wieder nach. Wodka in die kleinen, Grapefruitsaft in die großen Gläser. Er tanzt, hält Türen auf, hilft in den Mantel. Gegen zwei Uhr nachts torkelt er in den goldenen Fahrstuhl des Marriott-Hotels und drückt auf die 40. Vor der Panoramascheibe sinkt er in einen Ledersessel, bestellt zwei Mai Tai und lallt: „Na ja, nachts mit den Lichtern … gar nicht so übel, dieses Warschau.“

Unsere Bomben

„It’s very beautiful“, sagt Nick, englischer Rugby-Spieler, über die Warschauer Altstadt. Nick heiratet bald. Er will mit seinen fünfzehn besten Freunden an diesem Wochenende in Warschau noch einmal so richtig die Sau rauslassen. Sie sind alle Upperclass, haben Internate und Universitäten besucht. Ob er sich auf ein kurzes Gespräch über die Geschichte der Altstadt einlässt? „Ich finde die Altstadt auch schön. Sie war ja 1945 komplett zerstört. Die Warschauer haben sie wieder aufgebaut. Es gab keine Pläne, nur die Erinnerung der Menschen, einige Bilder und Fotos.“ Nick guckt nachdenklich in sein Bierglas. „Yeah“, sagt er, „we bombed it, didn’t we?“ Oops! „Nein, Nick, actually, das waren die Deutschen.“ Nick entschuldigt sich für seine mangelnden Geschichtskenntnisse („Not my strongest side“). Ein Junggesellenabschied ist vielleicht nicht der richtige Augenblick für Bemerkungen wie diese: „Hey, nichts für ungut, aber: Schon mal in Dresden vorbeigeschaut?“ Ja, und Nicks Bildungslücke ist verzeihlicher als die Gegenvariante: Verdrängung.

Ein befreundeter Pole musste über Nicks Fauxpas aus tiefster Seele schallend lachen. „Jetzt weiß ich auch, warum Prinz Henry eine SS-Uniform zum Fasching tragen kann“, sagte er. Ich sagte ihm lieber nicht, dass Nick später am Abend noch ein üppiges polnisches Busenpaar vor die Nase bekommen hatte – eine halbe Stunde lang, für umgerechnet 15 Euro.

Ihr Schmerz

„Liebe Damen und Herren, ich möchte so gern noch ein wenig über die Konzentrationslager sprechen“, sagt der Historiker des polnischen „Rates zum Schutz der Erinnerung an den Kampf und das Märtyrertum“. Eine Hand voll internationaler Journalisten soll über ihre flüsternden Dolmetscher die tragische Geschichte Polens erfahren. Die Zahlen ermordeter Polen fliegen durch den Raum. Immer wieder sagt der Historiker: „Aber das ist Ihnen sicher alles bekannt.“ Die Zuhörer sehen nicht danach aus. Dem Belgier vertiefen sich die Falten zwischen den Brauen. Er fragt: „Warum haben die Deutschen die Lager denn gerade in Polen gebaut?“ Der Aufklärer, um Fassung bemüht, antwortet: „Mein Herr, das ist eine merkwürdige Frage. Die sollten Sie wohl eher den Deutschen stellen! Uns hat damals jedenfalls niemand um Erlaubnis gebeten.“

Die Tür geht auf. Ein hoch gewachsener älterer Herr mit zurückgekämmten weißen Haaren betritt den Raum. Alle Polen stehen auf. Władysław Bartoszewski ist als ehemaliger Auschwitz-Häftling und polnischer Widerstandskämpfer, als Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, auch als ehemaliger polnischer Außenminister ein wichtiger Mann in der deutsch-polnischen Geschichte. Bartoszewski spricht laut (man sagt, er hört schlecht). „Wer von Ihnen kommt aus Berlin?“, fragt er. „Ich“, sage ich. Sein Blick und sein Zeigefinger haben für die nächste Stunde ihr Ziel gefunden. Wichtige Worte sagt er sicherheitshalber auf Deutsch. Jetzt bloß nichts falsch machen! „Polen ist in der Nato. Polen ist in der EU. Das ist eine große Befriedigung“, sagt er. Kurz bevor er geht, macht er noch einen Witz. An der Universität Augsburg traf er einen deutschen Professor, der im Alter von 18 Jahren in Hitlers Armee den Warschauer Aufstand, an dem Bartoszewski beteiligt war, mit niedergeschlagen hatte. Als Bartoszewski das gehört habe, habe er gelacht und gesagt: „Ha, du musst ja ein miserabler Schütze sein! Du hast mich nicht getroffen!“ Der Belgier sieht jetzt sehr verwirrt aus. Bartoszewski sagt: „Meine Lieben, ich muss los!“

Unsere Grenzen

„Es mag ja sein, dass wir Polen, was wirtschaftliche Entwicklung und zivilisatorische Standards betrifft, zwanzig Jahre gegenüber Westeuropa zurückliegen“, sagt Stanisław Janecki. Er ist stellvertretender Chefredakteur von Wprost, jener Zeitschrift, die, wie die Süddeutsche Zeitung meint, „regelmäßig mit Geschichten über die schleichende Rehabilitierung des Nationalsozialismus in Deutschland erschreckt“ und „das Klima bei der polnischen Rechten“ treffe. Janecki will mit Wprost „provokant und nicht politisch korrekt“ sein. „Uns stört die Arroganz der höher entwickelten Länder, dieses Besserwissen. Nach dem Motto: Ihr seid ja noch nicht so weit, deswegen geben wir euch mal ein paar Tipps, wie man ein Land regiert. Das gilt auch für einige deutsche Intellektuelle in Warschau. Warum spielt ihr die didaktisch Überlegenen?“, fragt er. Deutschland habe doch auch viele Probleme.

Janecki findet, Polen sollte in Fragen der Wirtschaft nicht nach Westeuropa schauen, sondern sich am amerikanischen Modell orientieren. Viele junge Polen zieht es in die USA. 21.000 polnische Studenten bekamen im vergangenen Jahr das begehrte Visum für einen viermonatigen USA-Aufenthalt zum Arbeiten in Feriencamps oder Hotels. „Sie wollen das große Amerika mit eigenen Augen sehen. Sie wollen sagen können: ‚Ich lag in Florida am Strand!‘“, sagt Lukasz, der solche Arbeitsreisen organisiert. „Und dann sehen sie, dass in Amerika alles so simpel ist.“ Seitdem Polen in der EU ist, steige das Interesse an Europa, sagt er. „Seit einem Jahr gehen immer mehr junge Polen nach England.“ Und nach Deutschland? „Das ist schwieriger. Deutschland hat bisher noch viel strengere Regeln für polnische Arbeiter als England.“ Ich verschweige lieber, dass das bekannteste Nachrichtenmagazin Deutschlands sie „Billigpolen“ nennt.

Unsere Eier

Mirosław Boruc erklärt die Welt so: „Was Adolf Hitler für Deutschland ist, das ist Lech Wałęsa für Polen.“ Donnerwetter, das ist doch mal ein neuer Ansatz! Die polnischen Jungdiplomaten sitzen auf ihren Barocksesseln und lauschen dem Mann mit den einfachen Botschaften. Neben ihm auf der Leinwand ist ein Ei abgebildet. Dieses Ei ist Polen. Wenn der Plan aufgeht, schlüpft aus diesem Ei eine „strong brand“, eine starke Marke. „Die Kunst, eine gute Marke aufzubauen, liegt darin, Gefühle mit Funktionalität zu verbinden“, sagt Boruc. Ein Bewusstsein von Herkunft und Identität ist für eine Marke auf dem globalisierten Markt essentiell.

Vielleicht wird das Wesen, das aus dem polnischen Ei schlüpft, ein tausend Jahre alter Ski springender Pontifex mit großem Schnurrbart, der seit Jahrhunderten für sein Land gekämpft hat, überall, wo er hinkommt, den Damen die Hände küsst, und zwischendurch heimlich an der Wodkaflasche nippt? Hätte das deutsche Wesen einen kleinen viereckigen Schnurrbart? Wally Olins, ein Londoner Marken-Papst, schreibt auf seiner Webseite über Polen: „Kein Land der Welt kann ein besseres Beispiel abgeben für die andauernde Macht der nationalen Identität.“ Ist das jetzt besser oder schlechter, als gar keine gemeinsame nationale Identität zu haben? Um die Marke Polen aufzubauen, hat das Außenministerium den „Rat für polnische Werbung“ gegründet. Denn noch, das sagt Mirosław Boruc ganz offen, befinde sich Polen in der „Experimentierphase“.

Unsere Zukunft

Im polnischen Außenministerium treffen sich zwei Frauen. „Ich bin sehr glücklich, dass sie meine Kollegin ist“, sagt Gesine Schwan. „Wir sind sehr glücklich, mit ihr zusammenzuarbeiten“, sagt Irena Lipowicz. Die beiden Professorinnen duzen sich. Im Auftrag ihrer Regierungen sollen sie die deutsch-polnischen Beziehungen verbessern. Sie sind sich einig: Zwischen Polen und Deutschen gibt es „Asymmetrien, die wir Stück für Stück beseitigen wollen“. Der Irakkrieg, die Europäische Verfassung … Polen fühlen sich von Deutschen nicht verstanden. Deutsche wissen zu wenig über Polen. Politische Schwierigkeiten, sagt Gesine Schwan, seien das eine. Gefährlich werde es mit den geschichtlichen Schwierigkeiten, weil sie Gefühle der Identität und des gesellschaftlichen Selbstwertgefühls berühren.

Eine dritte, unsichtbare Frau schwebt über ihren Köpfen: Erika Steinbach. In polnischen Medien zur faschistischen Karikatur degradiert, hat sie deutschen Vertriebenen Mut gemacht, ihren früheren Besitz zurückzufordern. Ein offizielles Rechtsgutachten hat ihr den Wind aus den Segeln genommen. Doch was passiert, wenn die von vielen Vertriebenen favorisierte CDU nach der Wahl 2006 das Ruder übernimmt? Darauf Schwan: „Von Wahlen hängt unsere Arbeit nicht ab. Ich war noch nie als gehorsam bekannt.“

Mia Raben, 27, lebt seit einem halben Jahr in Warschau und schreibt als freie Korrespondentin für deutsche Zeitungen.