Allein auf hoher Spree

Berlin prahlt gern mit dem „größten zusammenhängenden Wasserstraßennetz Europas“. Mit Naturschutzgebieten, Froschgequake und Storchengeklapper am Rand. Aber viel spannender ist es, mit dem Kajak mitten durch die City zu paddeln

Das Wasserberlin überrascht selbst den, der das Asphaltberlin kennt

VON JÖRG SPANIOL

Die „Heiterkeit“ schlägt hohe Wellen. So heißt das Schiff, so heißt das Programm: Ein Alleinunterhalter steht auf dem Oberdeck des Ausflugsdampfers und wechselt zwischen Zoten und A-cappella-Gesang. Jetzt singt er. Irgendwas von der Fischersfrau schnarrt aus den Bordlautsprechern über die Spree. Doch sein Publikum ist abgelenkt. In den Kielwellen kämpft die Besatzung zweier Kajaks ums Gleichgewicht.

Ich habe nicht daran gedacht, dass dies die hochamtliche „Wasserstraße Spree–Dahme“ ist und, hirnlos in ihrer Mitte dümpelnd, den Stadtplan nach Restaurants mit Landesteg durchforscht. Jetzt walzen die Bugwellen der „Heiterkeit“ auf mich zu, doppelt so hoch wie die Bordwand des auf und ab tänzelnden Kunststoffkajaks, und erzwingen den beherzten Griff zum Paddel. Ausgleichsbewegungen, Spritzer auf der Spritzdecke und: ganz locker durchatmen. Das Risiko, auf offener Spree zu kentern, ist auch für Anfänger nicht allzu groß. Schrecken und „Heiterkeit“ sind schnell vorbei. Und zum Nahrung versprechenden Steg sind es nur wenige Paddelschläge.

Auf der Terrasse des „Freischwimmers“ in Treptow speist das hippe Berlin aller Steuerklassen sehr relaxt Reis mit irgendwas Buntem. Nur 20 Zentimeter über dem grünbraunen Wasser einer Kanalsackgasse. Das hier könnte überall sein, in Amsterdam, Bangkok, Venedig. Überall, wo das gleichgültige Wasser der Hast einer Metropole seinen Widerstand entgegensetzt. Wer im Wasser doppelt so schnell werden will, muss ein Vielfaches an Kraft aufwenden. Aufwenden? Verschwenden. Einsicht bremst, der Verzicht auf Tempo entspannt. „Willkommen in Berlins langsamer Parallelwelt!“, scheint das Wasser unter den Dielen zu glucksen, „willkommen auf den nassen Schleichwegen ins Herz der Hauptstadt.“

Wenn jemand sich den Schädel rasiert oder eine Maß Sangria „auf ex“ herunterstürzt, begründet er es meist mit einer verlorenen Wette oder mit Liebeskummer. Mit dem Kajak durch Berlin? Kein Kummer, keine Wette. Nur Neugier.

In dieser Situation ist der beste Plan ein Stadtplan (so ein solider, am Stück; nicht diese furchtbaren Fledderpläne). Ausbreiten auf dem Fußboden und dann mit dem Finger immer da entlang, wo es blau ist. Und siehe: Es gibt nicht nur reichlich Grünflächen in Berlin, sondern auch viel Blau. Wannsee. Spree. Müggelsee. Und dazwischen Kanäle! Ein sauberes Dreieck mit – grob geschätzt – hundert Kilometer Kantenlänge.

Links oben: Spandau. Lins unten: Wannsee. Rechts oben: Köpenick. Und der lange Ost-West-Schenkel läuft mitten durch die City und das Regierungsviertel. Kanzler, ich komme! Nein, das dann doch nicht: Ein Anruf bei der Wasserschutzpolizei stellt klar, dass die Spree im Innenstadtbereich für „Sportboote“ tabu ist. Die Ausweichroute führt durch den Landwehrkanal.

Allgegenwärtig und insgesamt 200 Kilometer lang ist das befahrbare Adernetz Berlins. Und doch liegt es jenseits der Alltagswahrnehmung. Wie unsichtbar ist Berlins Wasserfront vom Oberflächenberlin aus mit seiner Hektik und Hundekacke. Ihr da oben, wir hier unten.

Das Wasserberlin überrascht selbst den, der das Asphaltberlin kennt. Mit froher, spießiger Niedlichkeit an seinem Rand. „Havelfreude“ und „Einigkeit“ heißen da Kleingartenanlagen, „Bürgerablage“ nennt sich ein Badestrand. Zur Stadt hin mit hohen Bretterzäunen wie eine Pioniersiedlung verbarrikadiert, öffnen sich die Grundstücke zum Wasser: Gartenzwerge, bunte Wimpel, Wagenräder mit Geranien und rechtschaffene Freizeitlaune. Im Schatten selbst gezimmerter Bootsstege reicht der Blick bis auf den Grund des Wassers und erfasst handtellergroße Teichmuscheln. Spree und Havel haben in Berlin Badequalität.

Oder das vornehme Berlin, südlich vom Wannsee und auf Inseln mittendrin. Grundstücke, bis zur Wasserkante bedeckt mit feinstem Golfrasen. Gartenhäuser in Wohnhausgröße vor gepflegten Wohnhäusern in Palastgröße.

Es wird Abend an Berlins Goldküste, und es ist kein Land in Sicht, das armen Paddlern Zuflucht gewährt. Auf einem kleinen, erdigen Grundstück im Schatten einer Trauerweide grillt der DLRG-Posten. Er kratzt sich auf die Frage nach einem Zeltplatz in der Nachbarschaft ausführlich den Nacken: „Hier in Wannsee? Je reicher, desto bornierter“, meint er. Wo also fragen? Das Vereinsheim des noblen Ruderclubs gegenüber wirkt monströs wie ein Schwarzwaldhäuschen auf Anabolika. Schon nach den ersten 30 Paddelkilometern schlich sich der Verdacht ein, dass auch Wassersportler die feinen Unterschiede pflegen. Insofern Paddler von Ruderern nicht gegrüßt werden. Dort fragen? Nein danke.

Anders als die meisten Ruderer benutzen Paddler ihr Boot oft als Reisevehikel. Und haben deshalb eine wunderbare Idee umgesetzt: „Kanustationen“. Wer Mitglied bei einem Paddelclub ist, kann für ein paar Euro auf dem Gelände anderer Clubs zelten und findet da auch Waschgelegenheiten und Toiletten. Für ein paar Euro mehr sind meist auch Nichtmitglieder willkommen. Nicht alle Clubs sind so gastfreundlich, aber allein in Berlin sind es ein Dutzend. Dummerweise sind die Kanustationen im südlichen Teil der Route dünn gesät.

Einen Kilometer südlich des Ruderpalasts finden es die Pächter einer Motorbootanlegestelle nicht einmal seltsam, nach ein paar Quadratmetern Zeltplatz gefragt zu werden. „Ick find dat jut, was ihr da macht“, sagt der Opa vor seinem Wohnwagen. Und sein Sohn setzt den Bierpreis auf einen Euro pro Flasche herunter. Sonderpreis für die tapferen Berlin-Umrunder! Das Zelt steht, der Pohlesee wird spiegelglatt, und die letzten Enten wackeln zur Nachtruhe ans Ufer.

Der Trip um die Hauptstadt hat nur einen einzigen Engpass, aber der ist 38 Kilometer lang, heißt Teltowkanal und verspricht schon nach Kartenlage wenig Spaß. Keine möwenbeschriene Weite wie Wann- und Müggelsee. Keine sonnigen Wasserkneipen wie die breiten Flüsse. Keine Innenansichten der Innenstadt. Aber die einzige direkte Ost-West-Route und damit zwingender Teil der Stadtrundfahrt. Nachdem der Kanal 1906 fertig war, zogen Lokomotiven die Schiffe vom Ufer aus hindurch. Warum, bitte, wurde das abgeschafft? Aber vielleicht muss es auch so sein, um einen Kontrast zu setzen zum Sinnenwirbel der Citydurchfahrt.

Knapp über der Wasserlinie, aber trotzdem wie im U-Boot durch Berlin: auftauchen, wo es sich lohnt. Umsehen, und unbemerkt weiterpaddeln auf den flüssigen Schleichwegen. In Trance durch die gleichmäßige Ruhe des Paddelschlags. Offenen Sinnes und mit dem Bug voran nach Kreuzberg, wo Berlin zu Mauerzeiten für Westler am berlinischsten war. Da, wo der Landwehrkanal als blauer Streifen mit grünen Randstreifen über den Stadtplan zieht.

Seltsame Fadenalgen treiben senkrecht im Wasser, ab und zu ein aufgeblähter Rattenkadaver. Bekiffte Bongo-Dilettanten trommeln sich am Urbanhafen die Knöchel dick, und keiner murrt. Zwei glatzköpfige Schwule joggen in Hotpants vorbei, und keiner schaut ihnen nach. Käsbeinige Freaks wirbeln schlurfend Staub auf. Nirgends, so scheint es, ist Berlin so entspannt wie am und auf dem Wasser.

„Was treibst du denn in Berlin?“, hatten Bekannte vor der Abreise gefragt. Treiben? Zunächst einmal nichts. Die Schultern schmerzen, der Nachmittag verglüht. Ich lasse treiben. Mich.