Der Tanz der Christen

Bei der Verbreitung westlicher Musik in Afrika waren christliche Missionare einst die treibende Kraft. Unfreiwillig trugen sie damit zur Entstehung des Pop in Afrika bei

Von CHRISTOPH WAGNER

Die afrikanische Popmusik ist aus der Synthese indigener Traditionen mit westlichen Stilen hervorgegangen. Die Ursprünge dieser Begegnung reichen weit zurück: Ins 19. Jahrhundert, als koloniale Militärkapellen durch die afrikanischen Küstenstädte paradierten, Matrosen europäischer Handelsschiffe eine fremdartige Musik an Land brachten und neue Klangerzeuger wie Mundharmonikas, Trompeten und Akkordeons immer öfter in Importgeschäften auftauchten.

Noch nachhaltiger wirkte die christliche Mission, deren intensive „Arbeit an den Heiden“ tief greifende musikalische Nebeneffekte zeitigte. Eine der größten Missionsgesellschaften war die Basler Mission. Schon 1828 hatte sie die ersten Missionare an die Goldküste (das heutige Ghana) geschickt, um ein Netz von Missionsstationen aufzubauen. Das Ziel: „Die armen Heiden aus dem Zustand der moralischen Finsternis zu erheben.“

Das Leben unter tropischen Bedingungen war hart. Die Missionare starben wie die Fliegen, die Todesrate lag bei 60 Prozent. Da sie sich im Besitz des wahren Glaubens wähnten, gingen sie rücksichtslos zu Sache. Alles wurde ins Visier genommen, was der christlichen Botschaft zu widersprechen schien: „Vielweiberei“, Sklavenhaltung, Alkohol, Fetischwesen und Ahnenverehrung. Jede Art traditioneller Musik wurde mit Bann belegt, weil sie mit „heidnischen“ Zeremonien in Verbindung stand. Kultgegenstände wie Trommeln und andere Musikinstrumente wurden geächtet.

Normalerweise lief eine Bekehrung auf eine vollständige kulturelle Umpolung hinaus: Wer getauft werden wollte, musste nicht nur seiner Religion abschwören, sondern auch sein Weltbild und seine Alltagsgewohnheiten ändern. Die Konvertiten hatten stattdessen dem christlichen Ideal von strenger Disziplin, rigider Ordnung und rigoroser Sinnenfeindlichkeit zu folgen. Einen wesentlichen Bestandteil jeder Missionsstation bildete die Schule. Der Unterricht stand allen Kindern offen, Jungen wie Mädchen! Der Lehrplan sah neben den Grundfertigkeiten pro Woche zwei Singstunden vor, wo christliche Hymnen „dem Gedächtnis der Kinder eingeprägt wurden“. Die Schülerzahlen stiegen kontinuierlich an. 1897 unterrichteten alle Missionsschulen allein in den deutschen Kolonien in Afrika zusammen etwa 10.000 Schüler. 30 Jahre später waren es allein an der Goldküste schon 20.000.

Das Resultat muss dramatisch gewesen sein. Innerhalb einiger Jahrzehnte durchliefen hunderttausende Schüler die Missionserziehung und kamen so in intensiven Kontakt mit europäischer Musik. Dadurch entstand ein Verständnis des temperierten Systems auf breiter Ebene, was die Basler Mission zur Hauptkraft der Verbreitung westlicher Musik in Westafrika machte. In anderen Regionen Afrikas waren Missionare anderer Glaubensgemeinschaften, ob englische Methodisten oder katholische Jesuiten, nicht weniger aktiv.

Das Singen blieb nicht auf die Schule beschränkt. Bei Missionsreisen in die nähere und weitere Umgebung diente es als Lockmittel: „Gesänge ließen die Schüler bei den Straßenpredigten hören, was gar viele Leute anzog, sodass wir stets von einer großen Zuhörerschaft umgeben waren“, hieß es 1900 von der Goldküste. Der Chorgesang zog weite Kreise. Bald verfügte fast jede Außenstation über eine Gesangsgruppe, die mehrstimmige Lieder singen konnte, was als „großer Sieg des Christentums“ gefeiert wurde.

Mit der Zeit entstanden Kirchenlieder im Stile lokaler Gesangstraditionen. „An unseren deutschen Chorälen finden die Kameruner wenig Geschmack“, bemerkte ein Missionar 1907. „Es ist aber wohl möglich, dass sich mit der Zeit Melodien ihrem Empfinden und Charakter entsprechend bilden.“ Ein paar Jahre später ist beim jährlichen Missionsfest an der Goldküste „sogar ein schwarzer Komponist anwesend und gibt zwei Lieder, die er selbst fabriziert hat, mit seinem Chor zum Besten.“

In diesen frühen christlichen Chorgruppen haben die „Singing Bands“ ihren Ursprung, die später zu einem wichtigen Element bei der Entstehung der westafrikanischen Popmusik wurden, etwa des Palmwine-Stils.

Vom Singen zur Instrumentalmusik war es kein großer Schritt. Das Musizieren im Posaunenchor schien den Missionaren eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung. „Die jungen Burschen müssen Gelegenheit haben, zu jugendlich fröhlichem, aber anständigem Treiben zusammenzukommen. Man muss sie anleiten, ihre Musezeit mit Edlem anzufüllen“, forderte ein Missionar 1902. Dazu kamen weitere Vorteile: Ein Posaunenchor konnte den Gesang im Gottesdienst begleiten und Gemeindefeste musikalisch umrahmen. Die Gemeinde in Christiansborg an der Goldküste (heute ein Stadtteil von Accra in Ghana) brachte durch eine Kollekte genügend Geld auf, um Blasinstrumente zu erwerben. Aus Schülern der Mittelschule wurde eine Kapelle gebildet, die von einem Gemeindemitglied geleitet wurde.

Die Kalkulation ging nicht ganz auf. Da die Absolventen der Missionsschulen oft gute Jobs in der Kolonialverwaltung oder bei Handelsfirmen fanden, gingen sie nach der Schulentlassung ihre eigenen Wege. Sie spielten in der Freizeit weiter auf ihren Blasinstrumenten – allerdings nicht im Sinne ihrer früheren Erzieher. „In manchen Gegenden wird die Sinnlichkeit und das ungebundene Wesen mächtig gefördert durch Musikbanden, die mit europäischen Instrumenten spielen. Auch viele Christen, zumal jüngere Leute, vermögen der Verführungsmacht dieser europäischen Musik nicht zu widerstehen und werden in wilder Erregung der Sinnenlust mit fortgerissen“, lautete eine Klage im Evangelischen Heidenboten.

Es scheint eine ironische Kapriole, zu sehen, wie sich die Lernerfolge der Missionsschulen in ihr eigentliches Gegenteil verkehrten und den christlichen Verhaltenskodex untergruben. Unbeabsichtigt hatte die Mission mit ihrer Musikerziehung die Grundlagen für eine populäre Musikkultur gelegt, die mit Tanz, Alkoholkonsum und loser Sexualität genau jene Verhaltensweisen förderte, die zu beseitigen sie eigentlich nach Afrika gekommen war. Und dass diese Vergnügungen bei den Nichtkonvertiten auch noch als „Tanz der Christen“ galten, setzt der Ironie noch die Krone auf.

„Ghana – Popular Music 1931–1957“ (ARION ARN 64564). Die CD enthält Aufnahmen einer Vielzahl von unterschiedlichen Musikstilen Ghanas, die von der missionsnahen Schallplattenfirma UTC gemacht wurden