DEMUT ALS HOBBY
: Brutalismus

„Unglaublich, was wir uns hier antun“, sagt mein Laufpartner

Leider habe ich da dieses Hobby, das Laufen. Am Wochenende war mal wieder Wettkampf. Der Weg führte uns nach Wilmersdorf. Bei der dortigen BSV-Winterlaufserie lernt man als Läufer vor allem eins: Demut. Das fängt bei den Umkleiden an. Etwa hundert Männer quetschen sich an diesem Morgen in zwei kleine Kabinen. Eine einzige Toilette befindet sich am Ort. Leider verfügt die kleine Zelle nicht über eine Lüftung. Dass ca. 48 Männer vor mir schon da drin waren, trägt nicht zur Qualität der Luft bei.

Als wir auf die Strecke gehen, ist die Temperatur von ein paar Grad minus das geringste Problem: Der Start ist direkt neben der A 100, auf einem Schotterweg. Gegenüber Gebäude, die meine zwei Laufpartner und ich als beinharten Brutalismus kategorisieren. Brutalistisch auch der etwa 2,5 Kilometer lange Rundkurs: An der Autobahn entlang laufen wir auf das Heizkraftwerk zu, dann – durch Fahrradständer hindurch, an Dornensträuchern vorbei – in ein Wohngebiet. Ein pittoresker Streckenabschnitt durch 80er-Jahre-Wohnblöcke rundet die Sache ab. Zwölfjährige Mädchen spielen an der Strecke Ordner. Sie tragen rote Fahnen in der Hand, die aus der Zeit von Turnvater Jahn zu stammen scheinen. Dackelausführer, erste Sonntagsspaziergänge und junge, feierwütige Heimkehrer wundern sich, was die laufende Meute hier treibt.

Zu Recht. „Unglaublich, was wir uns hier antun“, sagt mein Laufpartner. Neun stolze Runden absolvieren wir. Neunmal A 100, neunmal Heizkraftwerk, neunmal Hundeausführer umrennen. Die anschließende kalte Dusche entspricht nicht ganz unserer Vorstellung von Belohnung. Dafür gibt es oben eimerweise Aldi-Eistee. Die Preise für die Gewinner: ein, zwei schäbige Bronzepokale, Warnwesten, ein aufgekaufter Restposten Duschgel. „Weißt du, was das Gute ist?“, meint mein Laufpartner. „Schlimmer kann es in diesem Jahr nicht kommen.“ JENS UTHOFF