Die Kirche geht, die Kunst kommt

WANDLUNG Die St.-Agnes-Kirche in Kreuzberg, gebaut von Werner Düttmann, steht für Berlins Nachkriegsmoderne. Hier zieht der Galerist Johann König ein

Aus den Wohnungen von Pfarrer und Küster werden Büros für die Kreativwirtschaft

Berlins Galeristen geben zurzeit gern Risikokapital aus. Michael Fuchs hat erst vor zwei Wochen die Ehemalige Jüdische Mädchenschule in Mitte als Galerienhaus wiedereröffnet und den in Vergessenheit geratenen Bau der Neuen Sachlichkeit wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gebracht. Sein Kollege Johann König setzt mit einer spektakulären Investition nun noch einen drauf und erwirbt zum April 2012 die sanierungsbedürftige St.-Agnes-Kirche in Kreuzberg vom Erzbistum Berlin. Während Fuchs offenbar das Flair der zwanziger Jahre sucht, setzt König auf den Aufschwung der Nachkriegsmoderne.

Denn das Dreieck zwischen Alexandrinen-, Franz-Künstler- und Neuenburger Straße in der Kreuzberger Luisenstadt war in den frühen 1960er Jahren ein Ort modernster Stadtplanung. Die Trümmer des Zweiten Weltkriegs waren weggeräumt und auf der Brache konnte entstehen, was in Architektur und Städtebau angesagt war: der funktional entmischte Stadtraum, ein lichtes und luftiges Wohnen in locker angeordneten Neubauten, die urbane Parklandschaft statt miefiger Blockrandbebauung. Wils Ebert plante das „Spring-Projekt“ im Geist des Neuen Bauens. Und Werner Düttmann durfte den sakralen Akzent setzen, mit einem der heiligen Agnes von Rom geweihten Gemeindezentrum.

Als Architekturprofessor, Senatsbaudirektor (1960–66) und Präsident der Akademie der Künste (1971 bis zu seinem Tod 1982) prägte Düttmann den Wiederaufbau und die Stadtplanung in Westberlin maßgeblich mit. Er baute unter anderem das George-C.-Marshall-Haus auf dem Messegelände, die Verkehrsleitkanzel über dem Kurfürstendamm, das Brücke-Museum in Dahlem, das Akademiegebäude in Tiergarten und die Wohnbebauung am Kreuzberger Mehringplatz. Das Hansaviertel plante er ebenso mit wie die Großsiedlung Märkisches Viertel. Das Gemeindezentrum St. Agnes gehört zu seinen formal konzentriertesten Entwürfen. Kuben und Quader gruppieren sich um einen Innenhof, dem schmucklos massiven Riegel der Kirche verleiht ein Turm Nachdruck, über dem ein Würfel zu schweben scheint. Der knapp 800 Quadratmeter große Kirchenraum abstrahiert den traditionellen Typus einer dreischiffigen Basilika als Stahlskelettbau, der seine in aller Modernität pathetische Wirkung über monumentale Wandflächen und die Beleuchtung durch schmale Oberlichter bezieht.

Im Frühjahr 2013 will Johann König hier mit seiner Galerie einziehen und die im Augenblick 20 Künstler und Künstlerinnen ausstellen, mit denen er sich seinen Ruf als einer der wichtigsten Kunsthändler der Stadt aufgebaut hat. Das katholische Erzbistum hatte St. Agnes schon vor einigen Jahren entwidmet und einen neuen Eigentümer gesucht. Sogar der Abriss des denkmalgeschützten Ensembles stand zur Disposition. König konnte nun mit seinem Konzept überzeugen, hier zeitgenössische Kunst zu zeigen und die ehemaligen Wohnungen von Pfarrer, Küster und Kaplan als Büros für die Kreativwirtschaft zu öffnen sowie den Gemeindesaal für Gastronomie.

Johann Königs Bekenntnis zur im toten Winkel Kreuzbergs schlummernden Architekturmoderne zeugt von ästhetischer Urteilskraft, aber auch vom Mut zum ökonomischen Risiko. Denn Sozialbausiedlungen sind nicht so leicht zu gentrifizieren wie die Altbauquartiere Berlins. Aber ähnliche Reize hatte schon sein bisheriger Standort, eine unweit des Potsdamer Platzes versteckte Werkstatt. MARCUS WOELLER