Füchse, Wildsauen, Schwäne, Westdeutsche
: Großstädtisches Benehmen

Über die unterstellte Weltarmut von Wildtieren

VON HELMUT HÖGE

Berlin will partout Weltmetropole werden, gleichzeitig ziehen immer mehr Westdeutsche und Wildtiere in die Stadt. Letztere seien laut Martin Heidegger besonders weltarm, heißt es dazu unter „Weltoffenheit“ auf Wikipedia: „Infolge seiner Weltarmut ist dem Tier das Seiende als Seiendes nicht zugänglich, es ist Heidegger zufolge verwoben in seine Umwelt, bestehend aus einem ‚Umring‘ von Trieben, die auf einzelnes Begegnendes hin enthemmen und dazu führen, dass das Tier von der Sache ‚hingenommen‘ ist.“ Und weiter: „Damit ist dem Tier ein freies ‚Verhalten‘ zum Seienden verwehrt; Verhalten ist nur dem Menschen eigentümlich. Durch die Verbindung von Trieb und seinem Gegenstand ist das Tier in seinem Tun ‚benommen‘. Wegen dieser Benommenheit und in Abgrenzung zum menschlichen ‚Verhalten‘ sagt Heidegger, das Tier ‚benimmt‘ sich.“

Auch die neu zugezogenen Menschen wissen sich meist zu benehmen. Sieht man davon ab, dass sie – wie etwa in Prenzlauer Berg geschehen – des urbanen Lärms wegen hinzogen, dann dort jedoch vehement Ruhe einklagten. Aber wie benimmt sich nun das Tier? Drei Beispiele:

1. Ein männlicher Fuchs, nennen wir ihn Emil, hat sein Revier zwischen dem Görlitzer Park und dem U-Bahnhof. Neulich stand er an der Ampel Manteuffel Ecke Skalitzer. Diese wollte er überqueren. Als die Ampel auf Grün sprang, trat er jedoch zurück und ließ mir den Vortritt.

2. Als ich im Frühsommer das Auto auf dem Parkplatz der Lieper Bucht an der Havel aufschließen wollte, drängte mich eine alte Wildsau beiseite, sprang mit den Vorderfüßen auf den Fahrersitz und durchsuchte die Mittelkonsole nach Essbarem. Da dort nichts lag, verließ sie rückwärts den Wagen, bedachte mich mit einem vorwurfsvollen Blick und zog sich leise grunzend in den Wald zurück – mit ihren acht Frischlingen, die während der Durchsuchung in meiner Nähe gewartet hatten. Ihr forsches Benehmen würde ich als durchaus deeskalierend bezeichnen.

3. Im Spätsommer hatte im Humboldthafen ein älterer Höckerschwan einem jungen, der seiner nestbauenden Schwänin zu nah gekommen war, am Stauwehr in die Enge getrieben und dort so heftig attackiert, dass ein Passant die Feuerwehr rief, die ihn jedoch nur bat, weiter auf die beiden kämpfenden Schwäne aufzupassen: „Wenn wir den jungen fangen, wird der noch mehr verletzt und wir auch – und in der Schwanenstation geben ihm die Tierärzte sofort eine Todesspritze. Die wissen dort vor Schwänen nicht ein noch aus. Ständig kommen Leute, die verletzte Tiere bringen: Schwäne, die von Hunden gebissen wurden, Schwäne, die gegen eine elektrische Leitung geflogen sind usw.“. Der Passant tat, wie ihm geheißen: Er blieb stehen und passte auf. Dem Jungschwan gelang es schließlich, aus der Stauwehrfalle zu entkommen, er kam hastig ans Ufer und lief zum Aufpasser, hinter dessen Rücken er sich gewissermaßen versteckte. Damit war er in Sicherheit, wenn auch arg gerupft.

Man könnte sagen, dass der Passant sich zu benehmen wusste, indem er den Jungschwan beschützte. Für diesen gilt jedoch ebenfalls, dass er, der als Wildvogel in die vermeintliche Weltstadt geraten war, inzwischen gelernt hatte, dass man hier jederzeit mit den Menschen rechnen muss, aber notfalls auch kann. Dass er dabei den besagten Passanten wählte, der ein ausgewiesener Vogelfreund war, ist vielleicht auch kein Zufall.

Die drei Beispiele zeugen zugleich von einem „Mangel an Eigenständigkeit“, wie Herbert Achternbusch ihn in „Welt“ erklärt: „Die Welt hat sie vernichtet, das kann man sagen. Ein Mangel an Eigenständigkeit soll durch Weltteilnahme ersetzt werden. Man kann aber an der Welt nicht wie an einem Weltkrieg teilnehmen. Weil die Welt nichts ist. Weil es die Welt gar nicht gibt. Weil Welt eine Lüge ist. Weil es nur Bestandteile gibt, die miteinander gar nichts zu tun haben brauchen. Weil diese Bestandteile durch Eroberungen zwanghaft verbunden, nivelliert wurden. Welt ist ein imperialer Begriff. Auch da, wo ich lebe, ist inzwischen Welt. Früher hat man einen Bachlauf nicht verstanden, heute wird er begradigt, das versteht ein jeder. Ein Bach, der so schlängelt. Karl Valentin sagt: ‚Das machen sie gern, die Bäch.‘“ Auf die 3 Neuberliner (Tiere) bezogen hieße das: Sie haben vor der Welt kapituliert. Für die meisten Altberliner gilt dasselbe. So will man das Rathaus Wilmersdorf verkaufen und Rixdorf droht die „Gentrifizierung“.