WANDERSCHAFTSTAGEBUCH, TEIL IV
: Die Pfadfinderinnen

studierter Kameramann, ist seit 1998 Daumenkinograph: Er wandert über Land und zeigt Daumenkinos Foto: Schuele

Mit einem Bauchladen, auf dem sechs meiner Daumenkinos liegen, gehe ich regelmäßig auf Wanderschaft. Ich reise zu Fuß und zeige sie den Leuten am Straßenrand und über den Gartenzaun, besuche Dorffeste und führe meine Bilder abends in Kneipen vor. Diesen Sommer laufe ich von Oldenburg über Bremen, Hamburg, Lübeck und Wismar nach Rostock.

Nach drei Wochen erreichte ich das Meer. Ich fuhr mit der Fähre von Travemünde nach Priwall. Während ich mich in einer Ferienhaussiedlung mit einem Mann unterhielt, liefen vier Pfadfinderinnen vorbei. Ich hätte sie gerne angesprochen, aber sie waren zu schnell. Bis es mir gelang, das Gespräch mit dem Mann zu beenden, hatten sie eine knappe halbe Stunde Vorsprung.

Es dauerte nicht allzu lange, da liefen sie zum zweiten Mal an mir vorbei – sie hatten unterwegs am Strand Pause gemacht. Diesmal kamen wir ins Gespräch. Nach und nach setzten sie ihre Rucksäcke ab und nahmen Platz. Die Pfadfinderin, die mir gegenüber saß, hieß Nora. Sie hatte grüne Augen und einen offenen, neugierigen Blick. Von einem Daumenkino, in dem eine Frau am Wasser sitzt, für einen kurzen Moment ihre Brust zeigt und dann lachend den Kopf zurückwirft, war Nora besonders fasziniert.

Irgendwann beschlossen die Pfadfinderinnen, schwimmen zu gehen. Sollte ich mitkommen? Vielleicht beabsichtigten die Pfadfinderinnen nackt schwimmen zu gehen und da wäre meine Anwesenheit sicher unangemessen. Da ich mich nicht traute, sie zu fragen, ob sie Badesachen dabei hatten, verabschiedete ich mich von ihnen und blieb zurück. Ich hörte ihr Lachen und Kreischen, als sie ins Wasser liefen.

Wenig später kam eine Frau vorbei und besuchte meine Daumenkino-Ausstellung. Sie hatte schöne Hände und mir gefiel die behutsame Art, wie sie meine Filme betrachtete. Sie bot mir an, dass ich auf der Obstwiese ihrer Vermieterin zelten könne. Nachdem wir uns verabschiedet hatten, warf ich einen kurzen Blick durch die Bäume hinunter zum Strand. Zwei der Pfadfinderinnen verließen das Wasser. Sie trugen einen Bikini.

Als es dämmerte war ich allein, denn auch die Liebespaare, mit denen ich die Bucht geteilt hatte, waren gegangen

Als ich weiterlief, wusste ich plötzlich nicht mehr, wohin mit mir. Sollte ich am Meer weiterlaufen, Richtung Obstwiese abbiegen, oder vielleicht doch Schwimmen gehen? Hoffte ich nicht eigentlich, von den Pfadfinderinnen an ihr Lagerfeuer eingeladen zu werden? Der Weg wurde steiler und aus der Küste wurde eine Steilküste. Ich stieg zum Meer hinab. Ich fand eine kleine, geschützte Bucht und beschloss, zu bleiben.

Als es dämmerte war ich allein, denn auch die Liebespaare, mit denen ich mir zuvor die Bucht geteilt hatte, waren inzwischen gegangen. Das Alleinsein machte mich euphorisch. Ich baute mein Zelt auf und kroch in den Schlafsack. Im Halbschlaf sah ich die grünen Augen von Nora im flackernden Schein eines Lagerfeuers. Plötzlich war ich mir sicher, dass die Pfadfinderinnen auf der Obstwiese der Vermieterin der Frau mit den schönen Händen ihre Zelte aufgebaut hatten und nun mit ihr am Lagerfeuer saßen. Ob sie in diesem Moment auch an mich dachten? VOLKER GERLING