Arische Weihen für J. S. Bach

Mit seinen Konzerten erinnert der Bremer Domchor heute gern an die Schrecken des Krieges. Dass er einst aber unter dem weiter in der Stadt verehrten Kantor Richard Liesche eifrig mit am „deutschen Dom“ bauen wollte und bereitwillig Ständchen zum Führer-Geburtstag sang, ist schon lange vergessen

Die lebendige Beziehung zum Pendelschlag der Zeit erlaubt kein Ausruhen

von Gerhard Harms

Gibt es ein Gedenken ohne Erinnerung? Am 8. Mai 2005 wird der bekannteste und wohl beste Bremer Chor, der Domchor, das „War Requiem“ von Benjamin Britten aufführen, eins der eindringlichsten musikalischen Werke über die Schrecken des Krieges. Wolfgang Helbich, seit 1976 Domkantor, hat sich immer wieder mit seinem Chor an Veranstaltungen beteiligt oder sie gar inszeniert, die an die Verbrechen der Nazizeit erinnern. So reiste sein Chor im vergangenen Herbst nach Italien, um dort an ein Verbrechen der Deutschen Wehrmacht im Jahre 1944 zu erinnern: der Hinrichtung der Bevölkerung von Sant’Anna di Stazzema, einem Dorf in der Toskana. Über 500 Frauen, Männer und Kinder wurden von deutschen Soldaten in wenigen Stunden getötet, weil man Widerstandskämpfer unter ihnen vermutete. Im Gedenken daran führte der Domchor in Florenz, Lucca, Arezzo und Massa Mozarts Requiem auf, fand große Resonanz und leistete mit dieser Geste einen größeren Versöhnungsbeitrag, als es Worte mitunter können.

Nur wenigen Mitgliedern des heutigen Domchores ist allerdings bewusst, dass sie einer musikalischen Institution mit tiefbraunen Flecken in der fast 150-jährigen Geschichte angehören. Und auch Helbich ist nur begrenzt darüber informiert, dass einer seiner Vorgänger, der „große“ Richard Liesche, der den Domchor zu einem Sangesverein machte, der nicht nur höchste musikalische Anerkennung fand, sondern sich auch bereitwillig für die religiös zelebrierte Hitler-Verehrung einsetzen ließ.

Bereits am 29. März 1933, als sich die Nazis auch in Bremen die Herrschaft gesichert hatten, sang der Domchor im Rahmen eines Festgottesdienstes ein Halleluja auf die neue Bürgerschaft. Das hatte es bis dahin nie gegeben. Ein halbes Jahr später folgte ein Auftritt auf einer Großveranstaltung des „Kampfbundes für deutsche Kultur“ – jener Naziorganisation, die unter Führung Alfred Rosenbergs entscheidend daran beteiligt war, dass jüdische, linke und nicht anpassungsbereite Künstler schnell aussortiert wurden und das Kulturgeschehen zum Herrschaftsstabilisator degenerierte.

Der Domchor leistete in diesem Sinne Pionierarbeit und machte deutlich, wie leicht die NS-Ideologie auch in die scheinbar völlig unpolitischen Bereiche einsickern konnte. Das Jahr 1934 belegt das besonders gut. Am 30. Januar wurde die einjährige Herrschaft Hitlers im Dom gefeiert. Natürlich war der Chor dabei und sein Leiter Richard Liesche zeigte auch an anderer Stelle, dass auf ihn gezählt werden konnte. Im Rahmen der „Motette“ – einer von ihm gegründeten, bis heute existierenden Konzertreihe – bot er ein erstes Konzert mit „nordischer Musik“ an, dem mehrere folgen sollten. Arische Weihen erhielt auf diese Weise J.S. Bach. Im selben Jahr engagierte sich der Domchor auch bei der NS-Frauenschaft zur „Wimpelweihe“ und am 18. Oktober auf dem Kreisparteitag der NSDAP, wo Beethovens Ode „Die Himmel rühmen der Ewigen Ehre“ und danach das „Horst-Wessel-Lied“ erklangen.

Liesche und sein Chor konnten sich nicht nur der Gewogenheit der Partei sicher sein. Es war besonders auch die Geistlichkeit des Bremer Doms, die hinter ihnen stand. Die setzte sich aus „Deutschen Christen“ zusammen, einer von evangelischer Theologen ins Leben gerufenen Gemeinschaft, die die Kirche dem Naziregime gänzlich unterordnen wollte und in ihrem Wochenblatt „Kommende Kirche“ erklärte: „Der Christ ist in seinem Christentum Judengegner, sonst ist er kein Christ.“ In Bremen gelang den Deutschen Christen wie in vielen der damals 28 Landeskirchen ein nahezu widerstandsloser Durchmarsch bei der Besetzung der wichtigsten Posten. Hauptperson dieses Prozesses in Bremen war der Domprediger Heinz Weidemann, der sich 1934 zum Landesbischof ernennen ließ und als „Kommende Kirche“-Herausgeber einer der Köpfe der Nazitheologen war.

Jener Weidemann war der unumschränkte „Führer“ der Bremischen Kirche. Nur eine Minderheit der Pastoren gehörte zur „Bekennenden Kirche“, die sich von den Nazis nicht vereinnahmen lassen wollte. Diese Geistlichen wandten sich manchmal mutig gegen den radikal rassistischen Kurs des Bischofs, der vor nichts zurückschreckte. An Heinrich Himmler, den er neben Hitler besonders verehrte, kündigte er die Neuübersetzung des Johannes-Evangeliums mit der Bemerkung an, er werde dafür sorgen, „dass wir als Christen aus deutschem Blut und deutscher Rasse den antijüdischen Christus zeichnen“.

Ein solcher Kirchenführer hatte natürlich Erwartungen. Und Liesche kam denen bereitwillig nach. Käthe van Tricht, die damalige Domorganistin und enge Vertraute des Kantors, erinnerte sich an keine Situation, in der es ihrem Chef schwer gefallen wäre, die Nazis bei ihren Aufzügen zu unterstützen. Auftritte des Chores an den jährlichen Feierstunden zu Führers Geburtstag und zum Jahrestag der „Machtergreifung“ waren selbstverständlich. Über ein Domchor-Gastspiel 1935 im gerade errichteten Kriegerdenkmal auf der so genannten Altmannshöhe schrieb die Bremer Zeitung: „Geradezu magisch war es, wie diese Gesänge in der Abenddämmerung erschollen unter dem Glanze der Fackeln, die 25 SS-Männer für die Singenden hielten.“ Ähnlich muss es auch bei den Feierlichkeiten zum 1. Mai zugegangen sein, an dem der Domchor mitwirkte und für den 1933 vor dem Dom ein „Altar der Arbeit“ aufgebaut wurde.

Im ganzen Reich wurde der Domchor 1938 gefeiert, als er das Oratorium „Saat und Ernte“ von dem auch im Nachkriegsdeutschland noch sehr einflussreichen Kirchenmusiker Kurt Thomas (1904–1973) aus der Taufe hob. „Saat und Ernte“, ein tiefer Bückling vor den Blut-und-Boden-Aposteln, fand die allergrößte Beachtung in der gleichgeschalteten deutschen Presse. Niemals vorher oder nachher wurde ein Konzert des Domchores von so vielen Zeitungen wahrgenommen und bejubelt. Das Oratorium endet mit dem Chorsatz: „Wer Brot aus eigner Scholle schafft,/ das Bett bereitet,/ in das sich gießt der helle Strom,/ des Blutes für alle Zeiten./ So bauen wir den deutschen Dom/ für Ewigkeiten.“

Liesche galt als einer der besten Chordirigenten des damaligen Deutschland, sein Ensemble wurde in einem Atemzug mit dem Thomaner-Chor und dem Dresdener Kreuzchor genannt. Er durfte deshalb auch in den 30er-Jahren zweimal nach Skandinavien reisen – ein besonderes Privileg, das den Dank an den Führer herausforderte. Zu seinem 49. Geburtstag erhielt Hitler 1938 ein Ergebenheitstelegramm aus Kopenhagen. Dort hatte der Chor im April einen glänzenden Auftritt gehabt. Die großen dänischen Zeitungen waren voll des Lobes. Politiken nannte den Domchor einen „Elitechor“, für dessen Klang „wohl kaum ein Gegenstück“ zu finden sei. Für Weidemann ein gefundenes Fressen. Die Bedeutung der Reise erschöpfe sich nicht darin, dass deutsche Musik meisterhaft zum Vortrag gebracht werde, schrieb er, „sondern dass die nordischen Länder, die weithin durch die Ideologie der Bekennenden Kirche beeinflusst sind, einen Eindruck bekommen von der Wirklichkeit deutschen Geistes.“

Chor mit höchster musikalischer Anerkennung und tiefbraunen Flecken

Im Krieg sollten auch Belgien, Frankreich und die Niederlande etwas von diesem Geist spüren. 1941 und 1942 wurde der Domchor zum „Kriegseinsatz im Westen“ beordert, wie es in seiner „Chronik des Domchores“ begeistert heißt. In Paris durfte er am 6. Dezember 1941 in Notre Dame auftreten und im Palais de Chaillot Mozarts Requiem und die c-Moll-Messe aufführen. Für die Wehrmachtsführung wichtiger waren aber sicher die Auftritte zur Unterhaltung der einfacheren deutschen Besatzungssoldaten in Fontainebleau, Rouen, Lille und Arras. Da ging es weltlicher und realistischer zu: Eine der vielen „Volksweisen“, die erklangen, hieß: „Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren.“

Bischof Weidemann indes bekam in Bremen große Probleme. Bereits 1941 war er der Unterschlagung kirchlicher Gelder überführt worden, blieb aber im Amt, obwohl nun auch die Pastorenmehrheit gegen ihn war. Als er dann aber auch noch seine 20-jährige Sekretärin und Geliebte zum Meineid drängte, war das auch der NSDAP im gehobenen bürgerlichen Umfeld des Domes peinlich. Er flog Ende 1943 aus der Partei und wurde 1944 zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach dem Krieg tauchte er unter. 1949 wurde er im Rahmen der Entnazifizierung als „Hauptschuldiger“ in Abwesenheit zu vier Jahren Arbeitslager verurteilt. Er selbst gab sich gern als Opfer des NS-Regimes aus. Das nahm ihm zwar niemand ab, aber immerhin erreichte er 1952 die Klassifizierung „Mitläufer“ und wurde begnadigt. Er verließ Bremen und verdiente fortan sein Brot als Versicherungsvertreter.

Richard Liesche aber blieb in der Hansestadt auch nach Mai 1945 ein gefeierter Mann. „Bremen braucht ihn“, titelten die Bremer Nachrichten bei seinem Ausscheiden 1955. Auch als er zwei Jahre später starb, las man in den vielen Nachrufen kein Sterbenswörtchen der Kritik. Im Gegenteil. Seine Kriegseinsätze im Westen wurden im Weserkurier als Ausdruck internationaler Anerkennung besonders erwähnt. Von ihm selbst ist ebenfalls kein öffentliches Wort oder auch nur der Hauch einer Reflexion über seine Nazieinsätze bekannt – es sei denn, man wertet diesen Satz als eine solche: „Die lebendige Beziehung zum Pendelschlag der Zeit erlaubt kein Ausruhen, und ich wünsche nur, die sich mir bietende Gelegenheit der Entwicklung vom subjektiven Gestalter zum verantwortungsbewussten Mittler des Kunstwerkes recht genutzt zu haben.“ Weder die Bremische Kirche, die außerordentlich nachsichtig mit ihren Nazipastoren umgegangen war, noch die nach dem Krieg regierenden Sozialdemokraten hatten Probleme mit dem „verehrten Künstler“ (Weserkurier). 1948 ernannte ihn der Senat zum Professor und nach seinem Tod erhielt gar eine Straße seinen Namen. Der Dom ehrte ihn zweimal mit Gedenkkonzerten – zuletzt 1990 zum 100. Geburtstag. Der Domchor sang ein Werk Johann Nepomuk Davids aus dem Jahr 1937: „Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand“.

Staunen muss man darüber nicht. Im „Pendelschlag der Zeit“ hatte sich Liesche nach dem 8. Mai 1945 schnell den neuen Verhältnissen angepasst. Bereits Ende desselben Jahres dirigierte er in der „Glocke“ ein erstes Konzert mit der Bremer Philharmonie für die amerikanischen Soldaten – die neuen Herren in Bremen.