Durch die Erinnerung reisen

Von einer kurz vor der Wende gelungenen Flucht aus der DDR und der Kongruenz familiärer und gesellschaftlicher Enge: Ines Geipel liest im Literaturhaus aus ihrem neuen Roman „Heimspiel“, der stark autobiographische Züge trägt

Maßlosigkeit und Schweigen: Feine Risse im Familiengefüge

„Zwischendurch hat man sich eingerichtet, in dem, was man noch nicht loslassen kann. Erinnerungen zum Beispiel, selbst schon wie Bahnhöfe, letzte Ankerpunkte, bevor man das feste Land endlich verlässt.“

Das feste Land, das die Ich-Erzählerin in Ines Geipels neuem Roman Heimspiel, aus dem sie jetzt im Literaturhaus liest, verlassen will, war die DDR. Im Sommer 1989 saß sie im Zug Richtung Budapest. Dann irgendwie über die „grüne Grenze“ zu gelangen war der noch vage Plan. Aber der Entschluss zu gehen stand fest und musste doch während der langen Fahrt, während des Aufenthalts in Budapest, beständig gegen aufkommende Zweifel verteidigt werden. Denn wie gelingt solch ein Abschied? Wie lange dauert es, bis das Loslassen möglich ist? Nicht weniger als das bisher vertraute Leben blieb zurück, 29 Jahre.

Für die Erzählerin ist die Erinnerung zentral – sie erhöht die Schmerzintensität und macht den letzten Schritt doch erst möglich. Ein Geräusch, eine am Zugfenster vorübergleitende Landschaft: Fast alles kann zum Auslöser für den inneren Bilderfluss werden. Der führt zurück zu ihrer Liebe für Bo, die so fragil wie unausweichlich war. Zurück zur „kleine(n), stille(n) Frau am Küchentisch“, zur Mutter. Und zum „nicht anders könnende(n) Mann“, dem Vater.

Wie sich diese zwei, die einst für den jeweils anderen die Welt zum Klingen brachten, in einem „zu wenig an Leben“ einrichten, beschreibt Geipel sehr dicht, sehr eindringlich. Zwischen dem Verstummen der Mutter und der schrillen Maßlosigkeit des Vaters, die schließlich zu roher Gewalt wird, spannt sich das Leid des Kindes auf. Später dann die Enge, wenn die Tochter aus dem Sportinternat zu Besuch kam. Das Schweigen oder die schwatzende Wiederholung: „Das Leben erzählt seine Geschichten in immer denselben Versionen. Runde für Runde. (...) Mythen, ohne Zweifel einzuräumen, ohne Risse, Ballast, ohne Schuld.“

Das Erinnern der erwachsenen Frau ist auch ein Versuch, zu verstehen, indem sie den Prägungen der Eltern, den Rissen ihrer Biographien nachgeht. So gelangt sie bis zur Großelterngeneration. Welcher Art war 1942 die Anstellung des Großvaters mütterlicherseits in Riga? Woher kommt das herrschaftliche Haus? Mit solchen Fragen verkoppelt Geipel die private Geschichte mit der Zeitgeschichte und weist familiäre Enge als gesellschaftliche aus. Beide Ebenen verwebt die Autorin so dicht und unaufdringlich, dass es nie konstruiert wirkt. Die Autorin, die sich 1989 mit Ende 20 selbst zur Flucht aus der DDR entschloss, rührt damit zugleich an Fragen, die dort lange tabu waren.

Geipel zeichnet ihre Figuren sehr feinfühlig, hat einen besonderen Blick für das Intime einer Situation. Für ihre zwischen Zweifel und Beharren aufgespannte Protagonistin findet sie einen eigenen Ton. Sie weiß Worte für den gespaltenen Blick auf die Eltern. Kühle Sätze, wehmütige und poetische. Und nicht zuletzt emphatische Sätze für das Vertrauen in den eigenen Entschluss. Carola Ebeling

Ines Geipel: „Heimspiel“. Berlin 2005, 203 S., 16,90 Euro. Lesung: Di, 3.5., 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38