Wer nicht liebt, verschwindet

Leiden und lachen: Beim Konzert von Juliette Gréco in der Philharmonie dauerte es drei Sekunden, bis einem erste Schauer über den Rücken liefen

Juliette Gréco gibt ein Konzert in der Philharmonie, die große Chansonsängerin und Diva, die diesen Titel trug, lange bevor er im Pop entdeckt wurde. Was hat diese Frau alles erlebt und erschaffen: Gefangenschaft während der Kriegszeit, Mutter und Schwester im KZ, nach dem Krieg dann existenzialistische Sinnsuche mit Sartre und Camus, eine Funken schlagende Liaison mit Miles Davis, Filme mit Cocteau und nebenbei Serge Gainsbourg entdeckt … All dies geht einem durch den Kopf, während man im ausverkauften Scharoun-Bau auf ihren Auftritt wartet.

Und dann kommt sie, tritt von der Seite auf die Bühne, mit vorsichtigen Schritten, ihr bodenlanges Abendkleid ein wenig anhebend, geht bis zum Mikrofon und muss zunächst warten, bis der Beifallssturm abflaut. Ein Blick in den Saal, dann beginnt sie zu singen, und es dauert drei Sekunden, bis einem erste Schauer über den Rücken liefen.

Den Auftakt macht sie mit „Je jouais sous un banc“ in ihrer Kindheit. Das Lied ist auch das erste auf ihrem aktuellen Album. Als Kind spielt Juliette also unter einer Bank, findet Gegenstände, die sie sich aneignet, in denen sie fantasiert und sich einfach am Leben erfreut. Denn wie es auch laufen mag: Wer – so der unerwartete Aufruf am Ende des Liedes – nicht liebt, der sollte lautlos verschwinden. Juliette Gréco schwingt dazu ihren rechten Arm in die Höhe und erhebt mahnend den Zeigefinger.

Auch sonst fallen die Gestik und das mimische Repertoire der Gréco auf: Wenn die zierliche 78-Jährige die Hände bewegt, die Arme durch die Luft wirbelt, ihre Hüfte leicht nach hinten setzt, dann ist sie plötzlich ein Mädchen, eine „jolie môme“. Dabei stand Gréco, als sie Ende der Vierzigerjahre zu singen begann, starr, mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor dem Publikum. Bald aber verlieh sie den Worten mit ihren Händen Nachdruck. Ihr blasses, fast weißes Gesicht, ihre Gestik und Mimik sind es, die Geschichten erzählen. Das macht den unverkennbaren Stil der Gréco aus – im Verbund natürlich mit ihrer großartigen Stimme. Diese klingt zwar am Freitagabend nicht immer klar, geht oft ins Kratzige über, und doch ist das Klangspektrum verblüffend. „Orage“ klingt bei ihr tatsächlich so wie Gewittergrollen, das Besingen der blauen Augen eines Exgeliebten könnte jederzeit ins Weinen kippen, und glucksende Lacher unterstreichen die Wärme von Liebesbeziehungen.

Liebe und Leid – das sind die beiden Themen der Gréco. Obwohl sie nur ein Einziges ihrer Lieder selbst geschrieben hat, verraten sie doch viel von ihrem Leben. Eines ihrer allerersten Lieder war „Les feuilles mortes“, geschrieben von Jacques Prévert. Am Freitagabend präsentiert sie es in neuem musikalischen Arrangement. Die Schwermütigkeit des Lieds, das von der Erinnerung an eine alte Liebesbeziehung erzählt, weicht einer nahezu fröhlichen Beschwingtheit. Überhaupt haben die meisten der alten Hits für Live-Auftritte ein neues Kleid bekommen. Das ursprünglich schlichte „Deshabillez-moi“ zum Beispiel kommt im lauten Bigband-Stil daher.

Und noch etwas Besonderes hat Juliette Gréco für ihren Auftritt in Berlin vorbereitet. Verschmitzt und doch stolz entschuldigt sie sich schon vor dem Lied für ihr schlechtes Deutsch.

Teile von „La fourmi“, ein bereits auf ihrem ersten Album von 1951 vertontes Gedicht des Surrealisten Robert Desnos, singt sie auf Deutsch. Es geht um Dinge, die es gar nicht geben kann: Riesenameisen mit Hüten, die Wagen mit Pinguinen ziehen. Frech beharrt Juliette Gréco: Das gibt es nicht? Warum denn nicht?ANDREA EDLINGER