Friede, Freude, Maibowle

Während sich Politik und Gewerkschaften in Kapitalismuskritik üben, hat die Jugend von heute keine Lust mehr auf Straßenschlachten. Die Walpurgisnacht verlief trotz Hartz IV weitestgehend kuschelig

VON CLEMENS NIEDENTHAL

Nur in Berlin-Friedrichshain warfen ein paar ziemlich junge Menschen einige Steine gegen meine im Folgenden zu formulierende These. Und gegen Polizisten. Wobei Letztere bereits in den am nachfolgenden Morgen formulierten Pressemitteilungen den eifrigen Aktionismus in den Videotextredaktionen des Privatfernsehens relativierten. „Schon wieder Randale in Berlin“ war da auf Seite 113 im RTL-Text noch in der Nacht zu lesen gewesen. Und in der Tat hatte da irgendwo im Friedrichshainer Simon-Dach-Kiez in der so genannten Walpurgisnacht der Asphalt gebrannt. Im ganz wörtlichen Sinne, metaphorisch gesprochen traf das nicht mehr so richtig zu.

Als „insgesamt friedlich“, ja sogar „stimmungsvoll“ wertete die Pressestelle der Berliner Polizei am Sonntagmorgen die nächtliche Partylaune: „Drei Polizisten erlitten leichte Verletzungen. Sie setzten ihren Dienst jedoch fort. Ein Funkwagen und ein Wartehäuschen der BVG wurden beschädigt.“ In vergangenen Zeiten war eine solche Bilanz schon deutlich fataler ausgefallen. Oder ereignisreicher. Je nachdem, aus welchem Winkel man auf die Rituale blickt.

Deshalb also zur im Folgenden zu formulierenden These. Der erste 1. Mai nach Hartz IV wurde zumindest an seinem Vorabend kaum zum Tag der großen gesellschaftlichen Konfrontationen. Wurde nicht zur ritualisierten Kampfzone unterschiedlicher Lebensstile und – was letztlich entscheidender wäre – unterschiedlicher Lebensverhältnisse. Kein Tag der Arbeit als Tag des Abarbeitens an irgendwas und irgendwem. Nur auf dem Planeten Kreuzberg-Friedrichshain rüstete man sich weiterhin für den großen Krieg. Aus dem lauten, dunkelgrünen Hubschrauber heraus wurden tagsüber Sonntagsausflügler gefilmt. Und Hinterhöfe. Die Gegenspieler bereiteten sich derweil im Versteckten vor.

Dabei wären die Initialzündungen, zu denen ein solches Datum einlädt, durchaus kollektivpsychologisch nachvollziehbar. Genauso, wie sich die Familie immer am Weihnachtsfest in den Haaren liegt, passiert eben dies in einem größeren Rahmen rund um den 1. Mai. Die bürgerliche Gesellschaft schuf sich mannigfaltige solcher Zeitzonen, temporäre Heterotopien, um es mit Michel Foucault zu sagen. Den Karneval, die Kirmes, für wenige Jahre auch die gerade aufgrund anhaltender Erfolglosigkeit vom Markt genommene Love Parade. Momente, in denen die Ökonomisierung der Zeit, die Taktung des Alltags außer Kraft gesetzt wurde. Aber – kurzer Einschub – wie viel Taktung, wie viel Ökonomisierung gesteht Hartz IV seinen Probanden überhaupt noch zu? Was, wenn die Ausnahme zur Regel wird? Der Love-Parade-Exotismus zu „Vera am Mittag“-White-Trash und umgekehrt?

Die Walpurgisnacht jedenfalls wurde in diesem rezessiven Frühling zum Maifeuer der Liebe. Alle gemeinsam und ganz „stimmungsvoll“, um noch einmal die Berliner Polizei zu zitieren. Oder um es gleich mit Annett Louisan, dieser kleinen blonden Liebe-Lieder-Sängerin, zu singen: „Wir wollen doch nur spielen.“ Und schon damals im Kindergarten hatten solche Kinder wenige Freunde, die immer nur anderer Kinder Bauklotztürmchen umgeworfen und anderer Kinder Sandburgen niedergetrampelt haben.

Das bei Lichte betrachtet ziemlich langweilige Eventangebot des symbolischen Händchenhaltens und Schulterschließens, an diesem Samstag schien es aufzugehen. Das friedliche Straßenfest als Kuschelalternative zur Straßenschlacht. Vielleicht sind die Menschen trotz all ihrer nahe liegenden bis utopischen Anliegen einfach nur müde geworden. Oder eben solide Demokraten.

Vielleicht bezugnehmend auf die Walpurgisnacht, diesem heidnischen Tanztheater der Hexen und Dämonen, formulierte der Berliner Innensenator Erhart Körting am Sonntagvormittag allerdings die passende Warnung in erwartungsfrohe Diktiergeräte. „Der Spuk ist noch nicht vorbei“, meinte er in Erwartung eines Kreuzberger Abends und einer Kreuzberger Nacht. Ob der PDS-Mann damit richtig liegen sollte, konnte bis Redaktionsschluss nicht geklärt werden. Falls ja allerdings, wäre es tatsächlich ein Spuk – ein untoter Wiedergänger aus einer vergangenen Zeit, dessen ziemlich junge, randalierende Protagonisten wahrscheinlich selbst am wenigstens wissen, worum es ihnen eigentlich geht. Denn um das Retro-Phänomen Straßenschlacht mit Inhalten zu füllen, scheint 2005 das falsche Jahr.