Ungeliebte Sechsbeiner

Klaus Jansen über Steinbrück, Heuschrecken und den 1. Mai

Gelsenkirchen, Ruhrgebiet, über 25 Prozent Arbeitslosigkeit. Drei Wochen vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen übt sich SPD-Ministerpräsident Peer Steinbrück am 1. Mai in Heuschrecken- und Kapitalismuskritik – und wird ausgepfiffen. Nicht erst der missglückte Auftritt zum gewerkschaftlichen Großkampftag gegen die neoliberale Plage zeigt: Die Stammwähler an Rhein und Ruhr kann die SPD mit der Kapitalismusdebatte nicht mobilisieren. Ein Grund dafür: Kampagne und Kandidat passen nicht zusammen.

Peer Steinbrück sieht sich als erster Angestellter des Landes, nicht als Klassenkämpfer. Müntefering-Formulierungen wie „marktradikal“ und „asozial“ gehen dem gelernten Volkswirt nicht von den Lippen. Steinbrück mag am Maifeiertag mit Betriebsräten und Gewerkschaftern auftreten – ein Arbeiterführer wird der Technokrat nicht mehr.

Steinbrücks Zurückhaltung ist aber auch taktisch begründet. Der Ministerpräsident weiß, dass Münteferings Brachialformulierungen zwar vereinzelte Opel-Arbeiter und Aldi-Kassiererinnen aufrütteln können. Er weiß aber auch um die Unglaubwürdigkeit der Kritik: Wer in Berlin die Körperschaftsteuer senkt, kann in NRW nur schwer über profitsüchtige Unternehmer herziehen. Die bürgerlichen Wähler aus Schröders neuer Mitte, für die auch Steinbrück steht, erkennen diese Diskrepanz. Und die Hartz-IV-Empfänger, die zu PDS und linker Wahlalternative (WASG) übergelaufen sind, kann Steinbrück so auch nicht zurückholen. Doch auch wenn die SPD mit Fensterreden zum 1. Mai nicht wirklich punkten kann, wäre es falsch, das Konzept des Lagerwahlkampfs aufzugeben. Denn eine emotions- und konturlose Auseinandersetzung nützt nur dem führenden CDU-Herausforderer Jürgen Rüttgers.

Peer Steinbrücks Ausweg aus dem Dilemma könnte – statt Klassenkampf – ein Kulturkampf sein. Seine Chance ist das Schreckgespenst eines konservativen Roll-backs: Ein bayerischer Papst in Rom, dazu ein rheinischer Christdemokrat Rüttgers in Düsseldorf, der über die Überlegenheit des Katholizismus schwadroniert, der Studiengebühren einführen will und in dessen Sofortprogramm die Wiedereinführung der Polizei-Reiterstaffeln Priorität hat. Genügend Stoff also, um ein Feindbild aufzubauen.