In der Nähe lebten einst die Dutschkes

Jan Feddersens Gastrokritik: Das „Zwiwwel“ war eine der besten Adressen für das Berlin des Aufruhrs. Heute ist es eine schöne Gründerzeithölle

Hermann Hackstein gibt es nicht gern zu, aber im Grunde betreibt er sein Speisehaus wie ein Hobby – doch davon muss er leben. Zu unseren Gunsten, das muss gleich gesagt werden. Es ist freilich nicht leicht zu finden, in einer Seitenstraße des Bundesplatzes liegt es – und es heißt „Zwiwwel“, wie man die Zwiebel auszusprechen pflegt, wenn man süddeutschem Idiom verhaftet ist.

Der Kontrast zu heutigen Interieurs fällt am krassesten auf, wenn draußen die Sonne scheint: Denn drinnen fällt keiner ihrer Strahlen hinein – im Restaurant selbst ist alles durch Gründerzeitchic der Siebzigerjahre überwölbt. Kein Bauhauszitat, keine Schlichtheit aktueller Gastroeinrichtungen, keine italienische Anmutung. Stattdessen dunkle, wie abgedimmte Möbel. Spontan ahnt man, dass es die Fantasie von mutterbauchiger Gemütlichkeit gewesen sein muss, die die Zwiwwel vor dreißig Jahren so attraktiv machte.

Hackstein bietet insofern einer gewissen (politischen) Heimatvertriebenheit melancholisch anmutende Resonanz: Man fühlt sich zu Hause, erhört und bedacht. In der Nähe lebten einst die Dutschkes, aus der Nachbarschaft kamen die Angehörigen des RIAS zu Besuch. Es war die Zeit der Croque Monsieur und der rustikalen Imbisse, Leitungswasser, wäre es bestellt worden, hätte man als Exotikum bestaunt – und heute wird es anstandslos gereicht. Nun ja, das könnten Sie heute noch, dieses inzwischen nostalgische Speisen, denn die Zwiwwel ist ein famoses Restaurant. Wir aßen, solide und gut, eine Zwiebelsuppe, mit Käse überbacken, später ein Steak mit Bratkartoffeln (Ia mittelkross zubereitet), als Dessert war eine Crème brulée vorgesehen – auch sie ein mikrowellenfrei gefertigtes Gericht.

Hackstein, ein älterer, aber frischer älterer Mann mit strenger, grauer Fassonfrisur, hat im Übrigen die reibeisenkräftigste Stimme der Berliner Gastroszene: Leider spielt dieses Moment in den meisten Für & Wider eines Restaurants keine gebührende Rolle: Ein Timbre, das selbst zum argentinischen Wein verführen kann – und zwar völlig zu Recht.

Nach drei Stunden Zwiwwel ist kaum mehr vorstellbar, dass es draußen noch eine Welt gibt, die von Sonne beschienen sein kann, eine Welt, die nicht mit Gründerzeitmobiliar ausstaffiert ist – vielleicht liegt es auch an diesem Effekt, dass Achtundsechzig so schwer mit der echten bundesdeutschen Wirklichkeit zu Rande kam: Die war denn doch nicht allein ein gehegtes Museum von surrealen Träumen im Kerzenschein.

Kurzum: Die Zwiwwel hat eine Renaissance verdient – allein der Küche wegen. So gut wird Fleisch selten zubereitet.

ZWIWWEL, Bruchsaler Str. 6, 10715 Berlin, (0 30) 8 53 25 78, Di.–So. 18–0 Uhr; Hauptgerichte ab 10 €; alle Gerichte können variiert werden; Wein: Besonders empfehlenswert sind der Trollinger wie der Müller Thurgau vom Weingut Fürst Löwenstein in Franken