berliner szenen Trinken und Sinken (6)

Bachblütentee

Als der fast leere Zug in Werder einfährt, sind die Bahnsteige voll mit Menschen: eine amorphe schwankende Masse, die von behelmten Bundesgrenzschützern nur mühsam an der Selbstentleibung gehindert werden kann. Es ist Samstag, Baumblütenfest, die letzte Bahn nach Berlin.

Wir fahren sicherheitshalber Schritttempo. Ich wünsche mir, dass wir gar nicht halten – zum ersten Mal im Leben ertappe ich mich beim Beten: gleich wird der Saufmob auf die indische Tour die Wagendächer stürmen. Noch bevor ich nach vorne gerannt bin und den Lokführer beschworen habe, jetzt bloß keinen Fehler zu machen, hält der Zug. Die Marodeure entern ihn, kapern ihn, bringen ihn auf. Der 60. Jahrestag der Kapitulation steht vor der Tür und die Eroberung Berlins wird gegeben, von der besoffensten Laienspielgruppe der Welt. Ich ducke mich unwillkürlich, während die Horde trampelnd „Reise nach Jerusalem“ spielt. Die Gewinner rülpsen, die Verlierer stehen daneben, dicht gedrängt wie in der Straßenbahn. Einer bedankt sich: Er war mit dem Bein zwischen Zug und Bahnsteigkante geraten und ein anderer hat ihm rausgeholfen. Der wehrt ab: „Dit jing schnölla als rintreten …“

Kurz geschorene breitschultrige Jungmänner und quietschrosa Mädchen lassen Plastikflaschen mit bunter, chemisch anmutender Flüssigkeit kreisen. Die stinkt wie Nuttendiesel. Der Nüchternste in meiner Nähe, erfahre ich, hat schon gekotzt: Chinapfanne. Es herrscht Volksfeststimmung, nicht ohne diese typisch ländliche, latent schwelende Rauflust so vieler Fress-, Sauf- und Kotzfeste. Kurz vorm Alex entlädt sich die Spannung. Das Einschreiten der anderen gehört zum Ritual – wenn es, wie heute, rechtzeitig erfolgt, fließt noch nicht mal Blut. ULI HANNEMANN