Hungern gegen Hunger

Podium und Performance: Vom Thementag „Der perfekte Mensch“ im Rahmen der Ausstellung „Über Schönheit“ im Haus der Kulturen der Welt bleibt – verdienstvolle Irritation

VON JAN KEDVES

Im vergangenen Jahr vertrauten sich in Deutschland 1,1 Millionen Körper der plastischen Chirurgie an – macht zwei Eingriffe pro Minute. Viel ist das nicht: In Brasilien und Südkorea sind Schönheitseingriffe noch weit populärer. Dennoch Grund genug für die Organisatoren der Ausstellung „Über Schönheit“ im Haus der Kulturen der Welt, einen Tag zum Thema „Der perfekte Mensch“ anzusetzen. Um Schönheit im Zeitalter ihrer Reproduzierbarkeit sollte es gehen und das ganz passenderweise in Berlin, wo der Chirurg Jacques Joseph 1898 an der Charité zum ersten Mal eine medizinisch betrachtet vollkommen gesunde Nase ummodellierte – und dafür prompt gefeuert wurde. Als man am Samstagnachmittag das Haus der Kulturen der Welt betrat, dachte man also an die modernen Auswüchse von Josephs Pioniergeist: an Michael Jackson, an Cher, vielleicht auch an die französische Künstlerin Orlan. Oder an Tatjana Gsell?

Zunächst einmal räumte Karl Grammer, ein Verhaltensforscher aus Wien, in einem Vortrag über „Biologische Grundlagen der Schönheit“ gründlich mit romantischen Vorstellungen von Attraktivität auf, indem er etwa erklärte, Frauen hätten mit Männern, deren Körperhälften symmetrisch sind – also mit wissenschaftlich betrachtet attraktiven Männern – erwiesenermaßen bessere Orgasmen. Sander L. Gilman, Germanist und Medizinhistoriker aus Chicago, gab anschließend einen kritischen Überblick über die Geschichte der Schönheitsoperation: Den ideologischen Startschuss datierte er auf Immanuel Kant und dessen Entdeckung der Autonomie des Individuums. Im Falle der Schönheitschirurgie aber, so Gilman, bleibe diese Autonomie eine Illusion, da der Wunsch, sich zu verändern, mit gesellschaftlichen Repressionen verknüpft sei, zum Beispiel wenn ein Ire seine Ohren anlegen lasse, um „britischer“ auszusehen, oder ein Jude seine vermeintlich „jüdisch“ aussehende Nase abflachen lasse. Weiter wusste Gilman zu berichten, in London gehöre es mittlerweile zu jedem guten Partysmalltalk, sich gegenseitig Botox-Behandlungen ans Herz zu legen – was ihn selbst längst nicht so erschreckte wie einige Zuschauerinnen, die seine Ausführungen immer wieder mit nervösem Tuscheln und Zischen kommentierten.

Die folgende Podiumsdiskussion unter dem Titel „Schönheit im Zeitalter ihrer Reproduzierbarkeit“ franste thematisch bedrohlich aus: Jim Rakete gefiel sich in seiner Rolle als übellauniger Gesprächssaboteur, der immer wieder betonte, er als Fotograf sei ja eigentlich gar nicht qualifiziert, zu dem Thema etwas zu sagen. Während die Moderatorin Friederike Grothe sichtlich Mühe hatte, die Fäden beisammen zu halten, vertrat Doreet LeVitte Harten, Kuratorin des in einigen Wochen im Martin-Gropius-Bau eröffnenden Ausstellung „Die neuen Hebräer“, die Ansicht, der aktuelle Trend zu Fettabsaugungen sei Ausdruck eines neuen Mystizismus, also des Wunsches der Menschen, ihren Körper verschwinden zu lassen. Nico Weber, Fernsehautorin von 3sat, widersprach: Sie verstehe die wachsende Popularität von Schönheitseingriffen eher als Trend zur Aufwertung des Körpers. Zum Konsens kam man also nicht.

Die von LeVitte Harten aufgestellte These, Fernsehmoderatorinnen sähen sich heutzutage immer ähnlicher, ließ sich gleich im Anschluss nachprüfen – als das Programm mit einer Performance der Modedesignerin Lisa D. und des Berliner Ensembles für Neue Musik Zeitkratzer zum Abschluss kam. War das dunkelhaarige Fernsehgesicht, das da neben einem den Laufsteg beobachtete, nun Sandra Maischberger oder Maybrit Illner? Was die laut Programmheft „globalisierungskritische Modeperformance“ inhaltlich mit dem Thema „Der perfekte Mensch“ zu tun haben sollte – abgesehen davon, dass die dünnen Models auf dem Laufsteg möglicherweise dem nahe kamen, was mancher als „perfekte Frau“ bewerten würde –, blieb unklar. Doch vielleicht sollte genau das Teil der Provokation sein, die Lisa D. und Zeitkratzer 50 Minuten lang unternahmen: Sie schickten die Models nicht nur in schwarzen Satin-Morgenmänteln über den Laufsteg, die mit Aufdrucken wie „Fight Disease – Feel Good“ oder „Fight War – Feel Good“ irritierten, die Models putzten sich dabei auch noch gelangweilt die Zähne. Politisches Engagement dort, wo es besonders viel Sinn macht – vor dem Badezimmerspiegel? Auch die in Parodien des „kleinen Schwarzen“ von Chanel eingewebten „Schlank gegen Hunger“-Botschaften verwirrten und wussten einen Moment lang davon abzulenken, dass die schwarzen Flecken auf den Kleidern keinesfalls Flecken, sondern die Silhouetten afrikanischer Kinder mit Hungerbäuchen waren. Endgültig ins Absurde kippte die Performance, als ein mit Sonnenbrille auf grauem Haupt stark an Karl Lagerfeld erinnernder Herr den Laufsteg betrat, um das Publikum mehrmals als „liebe kritische Konsumenten“ anzusprechen.

Konsequenterweise ließ sich an Lisa D.s Gesichtsausdruck beim abschließenden Applaus-Abholen auf dem Laufsteg nicht ablesen, wie sie den durchaus euphorischen Zuspruch des Publikums verstand. War das ein anstandsloses Durchwinken ihres modesystemkritischen Performance-Konzepts – oder ein Unfähigkeitsbeweis der Zuschauer, ihren Hunger- und Seuchen-Chic als pure Dekadenz zu verstehen? Diese handfeste Irritation musste man Lisa D. am Ende als Verdienst anrechnen. Möglicherweise war sie genau das, worauf die Performance hinauswollte. Wundern würde es nicht: Schließlich hat man vor allem gelernt, dass bei den Themen Schönheit und Perfektion vermeintlich abgesicherte Positionen schnell mal ins Schleudern geraten.