BERND CAILLOUX’ NEUES BUCH „GUTGESCHRIEBENE VERLUSTE“ UND DAS CAFÉ M IN SCHÖNEBERG
: Wo die Grundbohemisierung Berlins erfunden wurde

Westwärts, ho!

VON DIRK KNIPPHALS

Hier wurde die Idee geboren, dass man die Berliner Mauer doch mit Graffitis verschönern könnte. Wirklich hier? Ja, hier! Im Café M? Ja, im Café M!

Bernd Cailloux weist in seinem soeben erschienenen Roman „Gutgeschriebene Verluste“ (Suhrkamp) darauf hin. Und auf derselben Seite regt Cailloux dann auch gleich selbst an, dass jemand doch mal eine Gedenktafel anbringen könnte: „Nach einem siebenstündigen Arbeitsfrühstück beschlossen die Maler Thierry und Kiddy am 9. Juni 1982 in diesem Café, die bis dahin grässlich graue Mauer mit ihren bekannten bunten Bildern anzumalen.“ Jörg-Fauser-Gedenkinitiativen entlang der Potsdamer Straße gibt es schon. Vielleicht sollte man das historische Bewusstsein tatsächlich auf Café-M-Berühmtheiten ausdehnen!

Lohnen täte es sich ja. Wer dieser historischen Spur nachgehen möchte, google sich nur mal mit dem Stichwort Thierry Noir durchs Internet. So heißt Cailloux’ Thierry mit vollem Künstlernamen. So eine Recherche ist zugleich eine kleine Zeitreise, auf der man immer noch einen Eindruck davon bekommt, wie bunt, schräg und strange dieses Westberlin in seiner „großen Zeit“ (Cailloux) war – so antiautoritär, dass man selbst die Autorität der Berliner Mauer nicht anerkannte, sondern sie als Malunterlage verwendete.

Immerhin: Ein okayer Ort ist das Café M bis heute geblieben, zuletzt zieht es auch subkulturmäßig wieder etwas an. Und eine hoch vergnügliche Sache, Cailloux’ Buch genau dort zu lesen, ist es sowieso, an einem dieser draußen ungemütlichen, aber drinnen sanft vorbeiplätschernden Vorfrühlingsnachmittage bei Milchkaffee, die man sich da immer noch geben kann.

Dem Café M widmet Cailloux einen Großteil des ersten Kapitels seines Buches. Ach was, widmen; er schreibt es zum Mittelpunkt der Welt hoch, zum Hotspot der Avantgarden und zum – jetzt wieder Cailloux’ eigene Worte – „einstigen Gemeindesaal der noch jungen Subkulturen“. Und es stimmt ja auch – irre, was sich da in diesem new wavig hell gehaltenen Café alles getroffen haben muss, damals, um 1980 herum. Die Berliner Fraktion der Neuen Wilden Maler saß neben Hegelexegeten. Blixa Bargeld schleppte seine stählernen Instrumente vorbei. Die Redakteure der ZDF-Reihe „Das kleine Fernsehspiel“ rekrutierten hier ihre experimentellen Regisseure – „auch mit verwackelten Schwarzweißbildern aus der Tiefe zugemüllter Westberliner U-Bahnschächte“ (Cailloux). Und nebenbei wurde auch das subkulturelle Sitzen draußen vorm Café erfunden: Das „Café Mitropa“ stellte als erstes Stühle raus.

Wer dieses erste Kapitel liest, gewinnt den Eindruck, dass sich hier, in diesem Café, in den frühen Achtzigern so etwas wie eine historisch verdichtete Zeit ereignete, so wie in den nuller Jahren vielleicht nur, in ganz anderer Ästhetik, rund um das Berghain: „In ihm begegneten sich exponierte Individuen und entwickelten Strategien für möglichst gesellschaftsferne Nischen.“ Das war schon wieder ein Cailloux-Satz aus dem neuen Buch über das Café M, von dem man viele zitieren möchte. Denn, digitale Boheme von heute aufgepasst: Die Grundbohemisierung des heutigen Berlins hat sich halt zuallererst im Café M zugetragen.

Ein anderer Satz aus dem Buch lautet: „Anders zu leben als der Rest der Republik, darum ging’s, kritischer in der Haltung, erfinderischer in der Gestaltung des individuellen Daseins, und das im ewig jugendlichen Gefühl von Vergnügen – auch für Erwachsene.“ Ach ja, so etwas liest man auch im heutigen Schöneberg noch gern. Und dass kritische Haltung mit erfinderischer Daseinsgestaltung und Vergnügen irgendwie verbunden ist, dem sollte man mal wieder stärker nachgehen.