Von Europa gemobbt

AUS ISTANBULJÜRGEN GOTTSCHLICH

Wenn Bundeskanzler Gerhard Schröder heute in Ankara landet, trifft er auf eine verunsicherte Nation. Die Türkei ist von einer nationalistischen Welle erfasst, wie seit der Festnahme Abdullah Öcalans 1999 nicht mehr. Flaggen-Märsche, Bücherverbrennungen, Spannungen im Verhältnis zu den Kurden und ein wieder aufbegehrendes Militär – die Reformregierung von Tayyip Erdogan ist in ihrer bislang größten Krise.

Auslöser des nationalistischen Rückschlags war ein vergleichsweise banaler Vorfall während der kurdischen Nevroz-Feiern im März. In Mersin versuchten während einer Demonstration kurdische Kinder die türkische Fahne anzuzünden.

Die Antwort war ein landesweiter Aufschrei der Empörung. Der Vorfall wirkte wie ein Katalysator für eine nationalistische Stimmung, die sich als Reaktion auf das hohe Reformtempo der letzten Jahre aufgebaut hatte, aber bis dahin weitgehend im Verborgenen geblieben war. Jetzt, da sich angesichts anhaltender Arbeitslosigkeit und immer neuen Forderungen aus Brüssel die erste große Enttäuschung über die EU-Perspektive breit macht, brach sich die angestaute Wut plötzlich Bahn. Nationalistische Vereine organisierten Flaggen-Märsche, der Schriftsteller Orhan Pamuk, der von 30.000 getöteten Kurden und 1 Million ermordeten Armeniern gesprochen hatte, sah sich mit einer Hasskampagne konfrontiert, und in der Schwarzmeerstadt Trabzon wurden ein paar linksradikale Studenten fast gelyncht, weil ein Lokalsender das Gerücht verbreitet hatte, sie wollten erneut die türkische Fahne verbrennen.

Angeheizt wird die Stimmung auch durch die Forderung der EU, Ankara müsse Zypern anerkennen. Vor allem nachdem der zypriotische Präsident Papadopoulos den Annan-Plan im Frühjahr letzten Jahres zu Fall gebracht hatte und die Griechen gegen eine Wiedervereinigung Zyperns stimmten, wird die jetzige einseitig progriechische Haltung der EU nicht nur von Nationalisten als Provokation empfunden. „Die EU hat keines ihrer Versprechen gegenüber Nordzypern eingelöst“, schrieb der prominente Kolumnist und EU-Befürworter Mehmet Ali Birand, „aber wir sollen nun die Zyperngriechen durch Anerkennung belohnen. Die internationale Politik hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun.“

Vollends drohte die Regierung Erdogan unter dem nationalistischen Aufruhr begraben zu werden, als sich aus Europa immer lauter die Forderung nach Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern erhob. Doch dieses Mal entschieden sich Erdogan und seine Berater, nicht zu warten, bis die Wogen über ihnen zusammenschlagen, sondern sich gleich an die Spitze der Gegenbewegung zu stellen. „Ich bin auch Nationalist“, sagte Erdogan im Parlament und wies gemeinsam mit der Opposition die „falsche Verurteilung der Türkei“ zurück.

Die Mehrheit der türkischen Bevölkerung ist stark verunsichert. Täglich wird in den Zeitungen von neuen Meinungsumfragen innerhalb der EU berichtet, die allesamt für die Türkei zunehmend ungünstiger ausfallen. Der Wahlkampf um die EU-Verfassung in Frankreich wird mit antitürkischen Parolen geführt. Die Forderungen aus Brüssel werden größer und die Aussichten, dafür jemals belohnt zu werden, kleiner. „Die meisten Türken fühlen sich von Europa gemobbt“, sagt Bahar Güngör, Leiter der türkischsprachigen Abteilung beim Deutschlandfunk kürzlich. „Erdogan droht mit seiner Europapolitik zu scheitern.“