Als Sport zum Widerstand wurde

Taz-Serie Kriegsende (Teil 8 und Schluss): Ihr Vater wird verhaftet, als Hitler an die Macht kommt – Lore Diehr lernt die Nazis hassen. Ihr Sportverein mausert sich zur Widerstandsgruppe. Die sowjetischen Soldaten ersehnt sie als Befreier und Genossen

VON PHILIPP GESSLER

Ja, es gibt ein richtiges Leben im falschen. Zumindest Lore Diehr hat es gelebt, damals, als der Sport zum Widerstand wurde und der Widerstand zu einer Art Sport. Die alten Fotos der 84-Jährigen liegen auf ihrem Wohnzimmertischchen in Pankow, und sie zeigen junge, lachende Menschen, die wandern, rudern, schwimmen, Ski fahren oder einfach Faxen machen. Viele Umarmungen sind zu sehen, malerische Natur, coole Typen, hübsche Frauen. Die schreckliche Zeit unter den Nazis war irgendwie auch eine gute Zeit für Lore Diehr. Obwohl sie als Kommunistin einer namenlosen Widerstandszelle in Prenzlauer Berg angehörte. Vielleicht wirkt sie heute noch so jung, denkt man sich, weil sie ihre Jugend so genoss. Und weil sie auf der richtigen Seite war.

Dieser Ort wurde ihr schon von ihrer Familie vorgegeben: Früh wusste sie, wo die Feinde standen: Aufgewachsen in Kreuzberg, erlebt sie mit zwölf Jahren, wie ihr Vater von den Nazis kurz nach der Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933 verhaftet wird. Der Vater ist SPD-Stadtverordneter. Es ist ein Elternhaus, in dem man „politischen Hass gegen die Nazis“ schnell lernt – nicht zuletzt wegen der Hausdurchsuchung, die die Familie erleidet: „Das möchte ich keinem wünschen“, sagt Lore Diehr heute. Geprägt habe das.

Bis Ende 1935 bleibt Lore Diehrs Vater in KZ-Haft. Zuerst war er im Gestapo-Gefängnis an der Prinz-Albrecht-Straße (der heutigen Niederkirchnerstraße), dann im KZ Sonnenburg (heute Westpolen). Gesprochen hat er davon auch später nur wenig, Arbeit findet er danach nicht mehr. Die Mutter hatte sich zunächst mit Lore und ihrem wenig älteren Bruder allein durchschlagen müssen. Sie eröffnete einen Tante-Emma-Laden in der Trelleborger Straße in Pankow. Da sich der aber nicht hält, versucht es die Familie mit einem Kellerladen in der Herthastraße. Der läuft – und entwickelt sich nach und nach zu einem Widerstandsnest: Hier liefern Genossen mit Sprüchen wie „Das ist für hinten“ unter der Hand Lebensmittel an, die dann an Illegale und ihre Helfer weitergegeben werden können. „Es wurde nie gefragt: Biste Jude, biste keener“, erzählt Lore Diehr, „ein Mensch ist ein Mensch.“

Erst Sport, dann Politik

Die Sache ist gefährlich. Aber Lore Diehr wächst da hinein und findet bald tatkräftige Unterstützung – über den Sport. Sie war schon lange in der SPD-nahen „Freien Turnerschaft“, die sich nach 1933 in „Blau-Weiß“ umbenennt: Sportvereine akzeptieren die Nazis, die sonst überall Widerstandsgruppen vermuten. Die jungen Leute von „Blau-Weiß“ treffen irgendwann auf einer ihrer Fahrten ins Umland auf andere Sportsleute vom Verein „Astoria“. Diese Gemeinschaft war früher der kommunistische „Fichte“-Sportclub. Und da man sich sympathisch findet, touren „Blau-Weiß“ und „Astoria“ bald gemeinsam. „Unser Leben hat sich mehr in der Natur abgespielt als in der Stadt“, erinnert sich Lore Diehr. Ihre Fotoalben sind voller Tourenbilder.

Nach und nach bildet sich auf den Fahrten von „Blau-Weiß“ und „Astoria“ ein Kern von jungen Leuten, die nicht nur sportlich, sondern auch politisch aktiv werden wollen. Immer radikal-entschlossener werden die scheinbar so harmlosen Sportlerinnen und Sportler: Zunächst lesen sie Marx, dann entwerfen sie erste Flugblätter, schließlich verstecken sie Waffen – für den Notfall. Und dann ist da noch die Sache mit dem Armbrechen:

Als mit Kriegsbeginn fast alle jungen Männer von Lore Diehrs Gruppe zur Armee eingezogen werden, suchen die sportiven NS-Gegner sie vor der Front zu retten und für den Widerstand zu sichern. Eine Methode ist das Armbrechen, um Urlaubsscheine zu bekommen. Zunächst geschieht dies äußerst primitiv mit etwas Äther, einem Klotz und einem Hammer. Später entwickelt die Gruppe ein einfaches Gerät, das die Sache erleichtert: „Es waren ja immer glatte Durchbrüche“, meint Lore Diehr lachend. In Frankfurt (Oder) arbeitet zu dieser Zeit der Genosse Fritz Oberdoerster, ein Hauptfeldwebel, in einem Lazarett. Dort werden die Widerständler mit den unglücklichen Armbrüchen möglichst lange mit gefälschten Urlaubsscheinen von der Front fern gehalten. Manche Genossen steigen so auch in die Illegalität ab, wenn Personal- und Krankenakten plötzlich verschwinden.

Lore Diehr versucht es auch mit Sabotage. Obwohl ausgebildet als Schneiderin, kann sie nicht lange in diesem Beruf arbeiten, weil sie im „Altmärkischen Kettenwerk“ (Alkett) dienstverpflichtet wird. Sie muss Messer schleifen. „Da kann man viel machen. Den Stahl für die Messer kann man verbrennen, dann ist er nicht mehr hart genug zum Schleifen“, sagt sie, „man darf sich nur nicht erwischen lassen.“ Wenn Lore Diehr davon erzählt, merkt man, welche diebische Freude es ihr bereitet hat, den NS-Kriegstreibern mit möglichst viel Ausschuss eins auszuwischen. „Det jing janz jut“, berlinert sie, „ich war aber auch so ungeschickt!“ Außerdem lässt sie sich von einem befreundeten Arzt im Betrieb immer öfter krankschreiben, bis sie nicht mehr bei Alkett arbeiten muss, sondern im elterlichen Tante-Emma-Laden aushelfen kann.

Den vielleicht größten Einsatz für den Widerstand aber leistet Lore Diehr, um ihren Sportkameraden und Genossen Paul („Polli“) Elsholz von der Front fortzukriegen: Sie heiraten während eines Fronturlaubs am 5. Juni 1944 – so entgeht Elsholz um wenige Tage den mörderischen Kämpfen nach der Invasion der Alliierten in der Normandie. Immerhin vier Wochen macht das junge Paar Flitterwochen in den Tiroler Alpen, von Hütte zu Hütte wandernd. Es ist ein schöne Zeit, aber so jung hätte sie ohne den Druck der Umstände „bestimmt nicht geheiratet“, meint Lore Diehr. Später wird eine Tochter geboren, aber die Ehe scheitert schon 1949. Schlecht redet Lore Diehr deshalb über Polli nicht. Außergewöhnliche Zeiten erforderten außergewöhnliche Taten.

Unauffällig weiterleben

Gemeinsam Sport treiben können die Genossinnen und Genossen immer weniger, weil die Männer meist an der Front sind oder als Illegale versteckt werden. Im Juni 1944 nimmt die Familie Diehr den untergetauchten Sportkameraden Gerhard Sredzki in einer zusätzlich gemieteten Wohnung über dem Kellerladen auf. Etwa ein Dreivierteljahr bleibt er dort. Sredzki darf sich nicht sehen lassen, die Diehrs müssen möglichst unauffällig weiterleben. „Man durfte einfach nicht auffallen“, betont Lore Diehr. Für Sredzki ist die Sache zusätzlich gefährlich, weil er bei den Fliegerangriffen nicht in dem Bombenschutzkeller darf.

Nach der Hochzeitsreise spritzt ein Arzt Lore Diehrs Mann Polli Blut unters Knie, damit er nicht wieder an die Front, sondern ins Lazarett in Frankfurt (Oder) kommen kann. Danach ist ein Armbruch angesagt, ehe die falschen Papiere fertig sind und Polli untertauchen kann. Mit diesen gefälschten Dokumenten radelt er immer von Frankfurt nach Berlin. Auch Gewehre und Handgranaten für den Widerstand transportiert er so, versteckt unter einem Sack kandiertem Weizen, „Mauseweizen“ genannt. Zur Tarnung läuft Polli in Wehrmachtsuniform durch die Gegend, da junge gesunde Zivilisten immer verdächtig waren. Sein Schutz ist ein gefälschter Urlaubsschein, der immer wieder aktualisiert wird.

Im Februar 1945 aber wird Polli verpfiffen – und ausgerechnet im Kellerladen der Diehrs wird er von der Feldgendarmerie, „Kettenhunde“ genannt, überprüft. Lore, die gerade nicht da war, kommt in den Laden, überblickt die Situation und versucht, die Armeebullen abzulenken, koste es, was es wolle. Sie flirtet mit ihnen, gibt Zigaretten und Schnaps aus, bis „die Sache so ein bisschen im Sande verlaufen ist“, die „Kettenhunde“ die Überprüfung Pollis unverrichteter Dinge abbrechen und gehen. Hätten sie ihn besser kontrolliert, wären ihnen wohl die vielen Blanko-Urlaubsscheine aufgefallen, die er in seiner Brieftasche trägt. Es wäre sein Todesurteil gewesen.

Für Sredzki wird die Wohnung nach der Überprüfung zu heiß. Er versteckt sich fortan in einer Laube in Heinersdorf. Das Ende des Krieges ist absehbar, die Laube entwickelt sich immer mehr zum zentralen Fluchtpunkt der Widerstandsgruppe. Die Handgranaten und Gewehre, die Polli transportiert hatte, werden dort versteckt. In der Laube ist ein Erdloch, in dem Sredzki und andere Illegale bei Gefahr verschwinden können. Darüber dann eine Diele, ein Teppich und ein Sofa – fertig ist das Versteck.

Waffen in der Couch

In der Regel werden die Waffen, die Polli aus Frankfurt (Oder) herbeischafft, zuvor in einer Couch verborgen, die Lore Diehrs Großvater, ein Tischler und Holzbildhauer, früher einmal angefertigt hatte. Die Couch hat einen doppelten Boden und steht im Kellerladen der Diehrs. Als Polli von den „Kettenhunden“ überprüft wird, sitzen sie auf der Couch, unter ihnen die Waffen. „Die haben gut gesessen“, strahlt Lore Diehr noch heute, „wenn wir nicht so unverschämtes Glück gehabt hätten, dann wäre es uns allen dreckig gegangen.“ Eine Holzmadonna auf Lore Diehrs Wohnzimmerschrank stammt noch vom Großvater – lächelt sie nicht ein wenig verschmitzt?

In diesen letzten Kriegsmonaten verteilt die frühere Sportlergruppe immer noch Flugblätter. Aus Papiermangel benutzen sie Feldpostbrief-Formulare, die sie mit Aufrufen zum Widerstand bedrucken und in Briefkästen verteilen. „Damals gab es keine Briefkästen, sondern man musste oben anfangen im Haus und hat gesteckt“, erinnert sich Lore Diehr. „Was denken Sie, wie schnell wir unten waren.“ So übermütig sportiv die Verteilaktionen für die Flugblätter waren – harmlos waren sie nicht: „Tod den Spitzeln und Denunzianten“, heißt es in einem, „Tod allen Kriegsverlängerern!“ Oder: „Berliner, seid tapfer! Fallt den Henkern des Deutschen Volkes in den Arm! Rettet, was uns noch verblieben ist!“ Und unter einem roten Stern mit Hammer und Sichel die Parole in Großbuchstaben: „Zum Kampf für ein freies und sozialistisches Deutschland!“

Im April 1945 schließlich, als die sowjetischen Truppen schon vor der Stadt stehen, taucht praktisch die ganze Widerstandsgruppe in der Laube in Heinersdorf unter. Es sind die alten Sportkameraden, die nun der Befreiung harren: Sredzki und seine Frau Gerda, das Ehepaar Beyermann, der Genosse Max Gamrow, Polli und seine Lore. Alle Männer sind ohne Papiere. Der Gefechtslärm kommt immer näher, die größte Gefahr aber geht von übereifrigen „Volkssturm“-Kämpfern aus, die in die Laube platzen könnten. Deshalb haben die widerständigen Sportler im Umkreis der Laube Schilder aufgestellt: „Achtung! Seuchengefahr!“, warnen sie.

Ende April stehen schließlich sowjetische Soldaten in der Laube – die Befreier! Die Gruppe kann nachweisen, dass hier Illegale untergebracht sind. Jemand radebrecht ein wenig Russisch. Vor allem aber ist da eine rote Fahne mit kyrillischen Buchstaben, ein Mitbringsel von einer „Fichte“-Reise in die Sowjetunion aus der Zeit vor 1933. Sie war die Kriegszeit über hinter einem Bild im Rahmen versteckt und war als Legitimation kurz vor dem Kriegsende in die Laube gebracht worden.

An der später in der DDR verbreiteten Legende, die Gruppe um Lore Diehr sei mit der Fahne den sowjetischen Befreiern entgegengegangen, ist übrigens nichts dran. Aber schön wäre es schon gewesen. Und ein wenig sportlich ja irgendwie auch.