„Marienerscheinung ist nicht mein Ding“

Der Schock über Gaskammern im KZ erschafft keinen Demokraten, meint der Ravensbrücker Pädagoge Matthias Heyl

taz: Herr Heyl, viele SchülerInnen wirken fast enttäuscht, wenn sie Ihre Gedenkstätte besuchen. Was passiert da?

Matthias Heyl: Schüler suchen nach grausamen Bildern, Stacheldraht und Gaskammern, die ihnen den schnellen Schock liefern. Die sind medial eben sehr erfahren. Ein Mädchen sagte hier jüngst, sie habe mehr Bilder ausgemergelter Frauen erwartet. Wir arbeiten hier aber mit einem konkreten biografischen Ansatz, der in seinen historischen Kontext gesetzt wird. Für Kurzzeitbesucher ist das oft schwer fassbar.

Wie sieht Ihr Konzept aus?

Unser Ziel ist es, diesen Ort mit seinen Menschen und seinen Widersprüchen zu zeigen. Mir geht es als Historiker und Pädagoge um einen historisch angemessenen Umgang mit diesem Ort: mit den Tätern, Opfern, Zuschauern – und den Grautönen. Das ist etwas anderes, als politische Bildung im normativen Sinn, die zu richtigen moralischen Haltungen führen soll.

Reicht das, was Sie machen, Politik und Gesellschaft?

Gedenkstättenpädagogische Marienerscheinungen sind nicht unser Ding. Niemand soll erwarten, dass wir kurzhaarige Fremdenfeinde in einer sonderpädagogischen Kurzzeitmaßnahme zu multikulturellen Demokraten machen können. Manche Lehrer meinen gar, dass wir ihnen den Unterricht zum Nationalsozialismus ersetzen. Andere finden, dass wir zeigen sollten, wie schlimm Menschen sein können, und meinen, dadurch die Demokratie zu stärken. Dabei ist gerade ein ehemaliges Konzentrationslager ein denkbar ungünstiger Ort, um über Handlungsspielräume damals und heute zu diskutieren.

Warum?

Wenn manche Überlebenden erwarten, dass wir allein durch das Beispiel der Frauen des Widerstands Antifaschisten herstellen, ist doch die Realität oft eine andere. Für manche Jugendliche ist es attraktiver, sich mit den Tätern zu identifizieren, weil diese stark und nicht schwach scheinen. Jugendliche, die hierher kommen, könnten auch lernen, dass Engagement und Widerstand ins KZ führen.

Was wollen Sie dagegen tun?

Jugendliche können lernen, dass es bis ans Tor des Lagers weit größere Handlungs- und Entscheidungsspielräume gegeben hat, selbst im Nationalsozialismus. Oft wird der NS zur Herstellung von moralischen Bezugsgrößen genutzt. Aber ich will mir die moralischen Bezugsgrößen auch nicht im Negativen von den Nazis bestimmen lassen. Wie der Historiker Ulrich Herbert richtig gesagt hat: Man muss nichts über Auschwitz oder Ravensbrück wissen, um zu fühlen, dass man einen Türken nicht totschlägt.

Was machen Sie nun konkret anders?

Forschendes Lernen. Wir wollen die Jugendlichen so weit bringen, dass sie sich den Ort selbst aktiv aneignen. Sie können mit uns in die Sammlungen gehen, unbehauene Quellen sichten, und so aus vielen Perspektiven etwas über die Komplexität dieses Ortes erfahren. Also wieder: Täter, Opfer, Zuschauer und Grauzonen. Und so etwas wie Quellenkritik anwenden. Viele Pädagogen setzen sich selbst unter Druck, Antworten geben zu müssen. Dabei gilt es, Fragen aufzuwerfen. Auch ich weiß heute noch lange nicht alles über diesen Ort, aber ich weiß, wo ich nachschauen kann. Durch die aktive Aneignung erleben die Schüler auch, dass es keine abgeschlossene Geschichte ist.

Wie reagieren die Jugendlichen auf Ihren Ansatz?

Ein großes Problem ist, dass die Jugendlichen merken, was sozial als Antwort erwünscht ist – insbesondere in der Schule und wenn es Noten dafür gibt. Daher wünschen wir uns mehr Zusammenarbeit mit außerschulischen Trägern – weil die auf Freiwilligkeit basiert. Es ist für niemanden angenehm, sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinander zu setzen. Manche Jugendliche merken intuitiv, dass viele meiner Generation das Thema zur Absetzung von ihren Eltern benutzt haben. Moralisierende Vorwürfe für die Verstrickung in den Nationalsozialismus machten es den Eltern leicht, Antworten zu verweigern. So entstand eine Konspiration des Schweigens, die letztlich dazu führte, dass man die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus umging.

INTERVIEW: CHRISTOPH VILLINGER