Die taz vor zehn Jahren: Manfred Kriener kommentiert das Urteil gegen heimliche HIV-Tests
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Das Kölner Urteil gegen heimliche HIV-Tests ist wunderbar. Aber es kommt streng genommen fast zehn Jahre zu spät. Denn die wilde Testerei erlebte schon in den 80er Jahren ihren Höhepunkt. Die Ärzteschaft stand der emotional hochgepushten Krankheit Aids hilflos gegenüber. Um überhaupt etwas zu tun, wurde kräftig Blut abgenommen und nach Antikörpern gefahndet. Mit und ohne Einverständnis der Betroffenen. Natürlich ging es auch darum, den Ermittler zu spielen, Schwule und Fixer zu „entlarven“, die Infektionsträger dingfest zu machen.

Inzwischen hat die Test-Manie nachgelassen, aus der gesellschaftlichen Debatte ist die Forderung nach Massentests verschwunden […]

Das Urteil hat aber noch eine andere, grundsätzlichere Bedeutung, die über Aids hinausreicht. Es bestätigt das „Recht auf Nichtwissen“ und strahlt damit weit in die aktuelle medizinische Zukunft hinein. Tests und Massen-Screenings sind nämlich nicht nur zur Beruhigung monomaner Sicherheitsfanatiker in Sachen Aids denkbar. Sie werden immer öfter auch im Kontext von „schlechten“ Genen diskutiert. Schillerndstes Beispiel ist das neu entdeckte Brustkrebs-Gen BRCA-1. In den USA sind inzwischen schon Hunderte von Frauen auf dieses Gen untersucht worden. Als direkte Folge positiver Testbefunde wird von Todesängsten, Depressionen, Selbstmorden und panikartigen vorsorglichen Brustamputationen bei Frauen mit dem Krebs-Gen berichtet. […]

Beim Brustkrebs und bei anderen auf der „Gen-Karte“ ablesbaren Krankheiten wird das selbe Recht auf Nichtwissen mit Zähnen und Klauen gegen die Zudringlichkeit der Forscher zu verteidigen sein.

Die Forscher brauchen „Patientengut“, um ihre Erkenntnisse in Langzeitstudien zu erhärten. Die Patienten aber brauchen Schutz und die segensreichen Wirkungen der Ahnungslosigkeit.

Auch deshalb ist das Kölner Urteil so wichtig.